Zwei obergerichtliche Entscheidungen haben sich im Berichtszeitraum mit den Anforderungen an eine i.S.d. § 200 StPO ordnungsgemäße Anklageschrift befasst (zur Anklageschrift s. Burhoff, EV, Rn. 462 ff.).
Das war einmal OLG Celle (Beschl. v. 21.5.2015 – 2 Ss 107/15, NStZ 2015, 603 = StRR 2015, 386). In dem Beschluss ging es um die Umgrenzungsfunktion der Anklage bei einem Verstoß gegen das AufenthG. Nach Auffassung des OLG entsprach die Anklageschrift nicht den nach § 200 StPO an eine ordnungsgemäße Anklage zu stellenden Anforderungen (vgl. dazu u.a. auch noch Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl. 2015, § 200 Rn. 2 m.w.N. [im Folgenden Meyer-Goßner/Schmitt]; BGH NStZ 1994, 350; 1999, 553). Denn der darin enthaltene Vorwurf war – so das OLG – zu unbestimmt, um die Tat zu individualisieren. Vielmehr hatte die Anklageschrift gänzlich auf die Mitteilung konkretisierender Umstände verzichtet. Das ergab sich daraus, dass weder aus der Anklageschrift noch aus dem späteren Urteil deutlich wurde, wann die dem Angeklagten zur Last gelegte Tat, deren Begehung auf den 14.4.2011 festgelegt worden sei, beendet war. Die Formulierung "bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt" sprach nach Auffassung des OLG dafür, dass die Staatsanwaltschaft davon ausging, dass die Beendigung des Delikts erst mit Erlass des Urteils eintreten solle. Das sei jedoch nach dem AufenthG nicht der Fall. Vielmehr beziehe sich eine einzelne Tat auf den Zeitraum, der jeweils durch die Dauer der erteilten Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung bestimmt werde. Deshalb dürfe nicht unklar bleiben, für welchen konkreten Zeitraum dem Angeklagten ein strafrechtlich relevantes Verhalten zur Last gelegt werde, gegen welches er sich angemessen verteidigen kann.
Ähnlich hat das KG in dem zweiten Fall argumentiert (KG, Beschl. v. 12.5.2015 – 121 Ss 152/14, StRR 2015, 385). Verfahrensgegenstand war die Misshandlung von Schutzbefohlenen in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung in der Zeit vom 16.12.2000 bis zum 3.3.2009. Das KG hat wegen einer nicht ausreichenden Anklageschrift ein Verfahrenshindernis angenommen. Die Anklage sei wegen inhaltlicher Mängel unwirksam, weil sie das dem Angeklagten vorgeworfene Tatgeschehen nicht hinreichend umgrenze. Der Anklagesatz kennzeichne bereits keine nach einzelnen Tatzeiten oder anderen individualisierenden Merkmalen bestimmbaren Teilakte der Misshandlung einer Schutzbefohlenen, die zur Umgrenzung des Tatvorwurfs erforderlich wären. Die Anklage gehe nicht über eine allgemein gehaltene und zusammenfassende Schilderung der dem Angeklagten vorgeworfenen Verhaltensweisen nach Tatgruppen über einen sehr langen Tatzeitraum hinaus. Sie lasse die Darstellung auch nur eines konkreten Einzelfalls vermissen.
Praxishinweis:
Solche Mängel in der Anklage spielen in der Praxis immer wieder eine Rolle. Sie sind verknüpft mit der Frage, ob die Mängel so schwerwiegend sind, dass die Anklage unwirksam ist. Ist das der Fall, wird das Verfahren nach § 206a StPO – ggf. noch in der Revisionsinstanz, wie die Entscheidung des KG (a.a.O.) zeigt – eingestellt. Als Faustregel muss man sich merken: Kann der Beschuldigte aufgrund der Anklage nicht erkennen, dass er gemeint ist und was ihm konkret vorgeworfen wird, dann bestehen Bedenken hinsichtlich der Wirksamkeit der Anklage und es lohnt sich ein Blick in die dazu vorliegende einschlägige Rechtsprechung.
Allerdings: Es stellt sich immer auch die Frage, ob Mängel der Anklage in der Hauptverhandlung mit einem rechtlichen Hinweis nach § 265 StPO behoben werden können. Dazu verhält sich der OLG Celle-Beschluss nicht, da das AG die Problematik der Unwirksamkeit der Anklage wohl gar nicht gesehen und die Sache einfach hatte "durchlaufen" lassen. Die Frage ist in Rechtsprechung und Literatur nicht ganz unbestritten. Das OLG Oldenburg (StRR 2010, 69 = StV 2010, 511) und das KG (a.a.O.) haben sie vor kurzem verneint. Sie wird hingegen von Meyer-Goßner/Schmitt, § 200 Rn. 26 bejaht (a.A. KK-Schneider, § 200 Rn. 41).
Hinweis:
In der Revision wird das Vorliegen einer wirksamen Anklage und damit korrespondierend eines wirksamen Eröffnungsbeschlusses von Amts wegen geprüft. Der Verteidiger muss dazu also keine Ausführungen machen. Er sollte aber dennoch ggf. den Finger in die Wunde legen.