Der BGH-Beschluss vom 2.8.2017 (4 StR 190/17) befasst sich mit der Frage, wann Anlass besteht, einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit oder gar einer Schuldunfähigkeit durch Einholung eines Sachverständigengutachtens nachzugehen. Nach dem Sachverhalt ging es um einen Angeklagten, der im Alter von 94 Jahren erstmals straffällig geworden und wegen sexuellen Missbrauch eines Kindes verurteilt worden ist. Nach den Feststellungen der Strafkammer war der Angeklagte zuvor weder durch Sexualstraftaten noch sonst strafrechtlich in Erscheinung getreten. Hinzu kam, dass der Angeklagte eine Vielzahl auch altersbedingter gesundheitlicher Leiden hatte. So litt er an Diabetes, Herzrhythmusstörungen, Osteochrondose und den Folgen eines Schlaganfalls; auch konnte er sich aufgrund altersbedingter Mobilitätseinschränkungen nur noch mit Hilfe eines Rollators oder eines Gehstocks fortbewegen; das LG hat seinen Zustand insgesamt als "hochbetagt" beschrieben und den Angeklagten zu einer unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Die dagegen gerichtete Revision des Angeklagten hatte Erfolg.
Der BGH (a.a.O.) hat rechtliche Bedenken gegen den Schuldspruch des landgerichtlichen Urteils. Das LG habe seinem Urteil ohne jegliche Erörterung die Annahme uneingeschränkter Schuldfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten zugrunde gelegt, ohne die Möglichkeit eines Ausschlusses oder einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit i.S.d. §§ 20, 21 StGB zu prüfen. Zwar bestehe nach der Rechtsprechung nicht bei jedem Täter, der jenseits einer bestimmten Altersgrenze erstmals Sexualstraftaten begeht, Anlass, der Frage einer erheblich verminderten Schuldfähigkeit oder gar einer Schuldunfähigkeit nachzugehen (vgl. BGH NStZ 1999, 297 f.; NStZ-RR 2005, 167 f.). Jedoch seien die Prüfung dieser Frage und ihre Erörterung im Urteil jedenfalls dann veranlasst, wenn neben der erstmaligen Sexualdelinquenz in hohem Alter weitere Besonderheiten in der Person des Täters bestehen, die geeignet sind, auf die Möglichkeit einer durch Altersabbau bedingten Enthemmtheit hinzudeuten (vgl. BGH NStZ-RR 2006, 38). Dies hat der BGH aufgrund der Umstände in der Person des Angeklagten bejaht.
Hinweise:
Die Entscheidung ist zutreffend. Es ist kaum nachzuvollziehen, warum das LG nicht selbst auf die Idee gekommen ist, ein Sachverständigengutachten zur Beurteilung der Frage einer erheblichen Verminderung oder Aufhebung der Schuldfähigkeit des Angeklagten einzuholen. Das muss jetzt in der neuen Hauptverhandlung durch einen Sachverständigen mit besonderer Erfahrung auf dem Gebiet des Altersabbaus erstattet werden (vgl. BGH NStZ-RR 2005, 167; 2006, 38). Und: Der BGH hat offensichtlich auch Bedenken hinsichtlich der nicht gewährten Bewährung (§ 56 StGB). Dazu teilt der Beschluss leider keine Einzelheiten mit. So kann nicht geprüft werden, warum das LG die Vollstreckung der neunmonatigen Freiheitsstrafe als "zur Verteidigung der Rechtsordnung geboten" angesehen hat (§ 56 Abs. 3 StGB).