1. Folgen der Entscheidung für bereits abgeschlossene und noch laufende Verfahren (s. Rn 219 ff. des Urteils)
- Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG verpflichtet den Gesetzgeber nicht dazu, rückwirkend Leistungen ohne Minderungen nach § 31a SGB II festzusetzen.
- Für bestandskräftige Verwaltungsakte bleibt es bei der Regelung in § 40 Abs. 3 SGB II – danach sind Überprüfungsanträge nach der Entscheidung des BVerfG für Zeiträume vor der Entscheidung nicht möglich – als Sonderregelung zu § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X. Fraglich ist, was für Überprüfungsanträge nach § 44 SGB X wegen Sanktionen gilt, die vor dem Urteil des BVerfG eingelegt wurden. In der Kommentarliteratur wird hierzu vertreten, § 40 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 SGB II gelte unabhängig davon, ob der Überprüfungsantrag bereits vor der Entscheidung des BVerfG gestellt wurde (s. etwa Greiser in Eicher/Luik, SGB II, § 40 Rn 91). Gerichtlich ist die Frage noch nicht entschieden.
- Nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 S. 1 SGB II (Minderung über 30 %), die vor der Urteilsverkündung festgestellt worden sind, bleiben wirksam.
- Zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung nicht bestandskräftige Bescheide über Leistungsminderungen nach § 31a Abs. 1 S. 2 und 3 SGB II sind, soweit sie über eine Minderung i.H.v. 30 % des maßgebenden Regelbedarfs hinausgehen, aufzuheben. Eines Widerspruchs bedarf es insoweit nicht, wohl aber, wenn bei einer Sanktion über 30 % des Regelbedarfs das Bestehen einer außergewöhnlichen Härte oder die Dauer der Sanktion nach einer zwischenzeitlichen Erfüllung der Mitwirkungshandlung (s. oben II. 3. a, 2. u. 3.) gerügt wird.
2. Ungeklärte Rechtsfragen
a) Verschärfte Sanktionierung der unter 25-Jährigen
Über die Verfassungswidrigkeit der verschärften Sanktionierung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (§ 31a Abs. 2 SGB II), hatte das Gericht nicht zu entscheiden. Da nach dieser Vorschrift bereits beim ersten Pflichtverstoß eine Beschränkung des Alg II auf die Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) erfolgt und bei wiederholter Pflichtverletzung das Alg II vollständig entfällt, dürften auch diese Vorschriften nach den Ausführungen des jetzigen Urteils verfassungswidrig sein. Zusätzlich liegt wegen der strengeren Ahndungen von Pflichtverletzungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) nahe.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) hat angekündigt zu prüfen, inwiefern die vom Gericht aufgestellten Grundsätze für die Gruppe der unter 25-Jährigen Anwendung findet. Bis zum Abschluss dieser Prüfung empfiehlt es sich, gegen nicht bestandskräftige Bescheide Rechtsmittel einzulegen und bei bestandskräftig abgeschlossenen Verfahren einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X (s. die Einschränkung in § 40 Abs. 1 S. 2 SGB II) zu stellen.
b) Auswirkungen der unzureichenden Höhe des Regelbedarfs
Nach der Neufestsetzung der Regelleistung zum 1.1.2011 hat die nominal gleichbleibende Minderungsquote einen anderen Kontext erhalten, weil seither durch die Bereinigung/Minderung statistisch ermittelter Bedarfe der Spielraum für den beim Statistikmodell verfassungsgebotenen internen Ausgleich zwischen den verschiedenen Bedarfspositionen deutlich verringert worden ist (s. Berlit in Ders. u.a., Existenzsicherungsrecht, 3. Aufl. 2019, Kap. 23 Rn 12 m.w.N.). Das BVerfG hat zwar in seinem Beschluss vom 23.7.2014 (1 BvL 10/12 u.a.; s. hierzu Sartorius/Pattar, ZAP F. 18, S. 1409 ff.) entschieden, dass die vom Gesetzgeber getroffenen neuen Regelungen derzeit noch mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Allerdings hat das Gericht seine Ausführungen ergänzt mit konkreten Anweisungen an den Gesetzgeber und an die Normanwender, um dem Risiko einer Unterdeckung zu begegnen. Eine vollständige Umsetzung ist bisher nicht erfolgt.
Auf diesen rechtlichen Aspekt ist das Gericht im aktuellen Urteil nicht eingegangen.
c) Sanktionen im Asylbewerberleistungsgesetz
Das BSG hat durch Urteil vom 12.5.2017 (B 7 AY 1/16 R) zu § 1a AsylbLG entschieden, dass die dort bestimmte Beschränkung der Leistung auf das unabweisbar Gebotene verfassungsgemäß ist, wenn ein persönliches Fehlverhalten des Leistungsberechtigten bei der Beschaffung von Passersatzpapieren zur Nichtvollziehbarkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen führt. Gegen die Entscheidung wurde Verfassungsbeschwerde eingelegt, die beim BVerfG anhängig ist (1 BvR 2682/17).
3. Vorschläge zur Reform des Sanktionsrechts
Nach jüngsten Pressemitteilungen soll der zuständige Fachminister – jedenfalls bei über 25-Jährigen – keine Sanktionen vorsehen, die 30 % des Regelbedarfs übersteigen. Linke und Grüne haben in einem gemeinsamen Antrag an den Bundestag die vollständige Abschaffung der Sanktionen gefordert (NJW-aktuell 49/2019, 8). Der DGB, die AWO, die Diakonie Deutschland, der Paritätische Wohlfahrtsverband und andere Organisationen fordern ebenfalls, die bestehenden Sanktionsregelungen aufzuheben und stattdessen ein System der Förderung und Unterstützung einzurichten (s. SozSich 2019, 389).
Autor: Rechtsanwalt und Fachanwalt für Sozialrecht und für Arbeitsrecht, Dr. Ulrich Sartorius, Breisach
ZAP F. 18, S. 1293–1300