a) Umsetzung/Anwendung der RiLi 2016/1919
aa) Unmittelbare Anwendung im nationalen Recht?
Die PKH-Richtlinie EU 2016/1919 vom 26.10.2016 war bis zum 5.5.2019 in nationales Recht umzusetzen (s. oben I). Nachdem das nicht geschehen ist, stellte sich in der Praxis zunächst vor allem die Frage, ob die Grundsätze der RiLi ggf. automatisch im Recht der Pflichtverteidigung gelten. Dazu hat der BGH im Beschl. v. 4.6.2019 (1 BGs 170/19, https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/5218.htm) Stellung genommen. Der BGH hat die Frage verneint. Für eine unmittelbare Anwendung der Bestimmungen der sog. PKH-Richtlinie i.V.m. § 141 Abs. 3 StPO mit der Folge, dass bereits mit Ablauf der Umsetzungsfrist für die Mitgliedstaaten am 5.5.2019 (vgl. Art. 12 Abs. 1 PKH-Richtlinie i.V.m. Ziffer 2 der Berichtigung der PKH-Richtlinie [Abl. 2017 L 91/40]) "im Regelfall schon vor der ersten Beschuldigtenvernehmung ein Antrag auf Pflichtverteidigerbestellung zu stellen ist", sei rechtlich kein Raum (vgl. dazu auch Burhoff StRR 7/2019, 5 ff.). Erforderlich für eine unmittelbare Wirkung einzelner Richtlinienbestimmungen sei – neben dem Ablauf der Umsetzungsfrist –, dass diese inhaltlich unbedingt und hinreichend genau gefasst seien (vgl. bereits EuGH, Urt. v. 19.1.1982 – Rs 8/81; Becker NJW 1982, 499, 500). Das hat der BGH verneint. Den Mitgliedsstaaten werde nämlich ein nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum eingeräumt, der es ihnen namentlich ermöglicht, die Bewilligung von Prozesskostenhilfe im Strafverfahren an "eine Bedürftigkeitsprüfung" (Art. 4. Abs. 3 PKH-RL), eine "Prüfung materieller Kriterien" (Art. 4 Abs. 4 PKH-RL) oder an "beides" zu knüpfen (vgl. Art. 4 Abs. 2 PKH-RL).
Hinweise:
Damit bleibt nur die Möglichkeit der "Anwendung" der RiLi im Rahmen der Auslegung des derzeitigen nationalen Rechts über die Grundsätze der sog. richtlinienkonformen Auslegung (vgl. aber auch dazu ablehnend BGH, Beschl. v. 4.6.2019 – 1 BGs 170/19, https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/5218.htm ). Danach sind alle Organe der Mitgliedstaaten verpflichtet, bei der Auslegung nationaler Rechtsvorschriften Unionsrechtskonformität herzustellen. Grenze dieser Verpflichtung ist das Verbot der contra-legem-Auslegung, welches bei Fehlen eines auslegungsfähigen nationalen Rechtssatzes bzw. Überschreitung gültiger Auslegungstopoi eingreift (zu allem Burhoff 7/2019, 5 ff.; Kaniess HRRS 2019, 201 f. m.w.N.; Jahn/Zink StraFo 2019, 318 ff.).
Ansatzpunkte für eine Auslegung des nationalen Rechts bieten die Generalklausel des § 140 StPO, der die Beiordnungsgründe regelt, und die Verfahrensvorschriften des § 141 Abs. 3 S. 1 und 4 StPO.
bb) Anwendung im Einzelfall
Exemplarisch soll auf Entscheidungen von Instanzgerichten zur Anwendung der noch nicht umgesetzten PKH-Richtlinie 2016/1919 hingewiesen werden (s. aber auch BGH, Beschl. v. 4.6.2019 – 1 BGs 170/19, ZAP EN-Nr. 608/2019; https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/5218.htm ). Das LG Chemnitz geht in seinem Beschl. v. 30.7.2019 (5 Qs 316/19, StRR 8/2019, 18 f.) davon aus, dass Regelungen aus Art. 4 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/2019 nach Ablauf der Umsetzungsfrist bei der Entscheidung über eine Pflichtverteidigerbestellung angemessen zu würdigen sind und in die Entscheidung mit einfließen müssen. Der Angeklagte befand sich in einem anderen Verfahren in Haft. Das AG hatte eine Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. Das LG hat nachträglich beigeordnet. Zwar habe sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der amtsrichterlichen Entscheidung erst seit ca. sieben Wochen in Strafhaft befunden, so dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch nicht vorgelegen hätten. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wäre aber nach Auffassung des LG vorliegend gem. § 140 Abs. 2 StPO geboten gewesen. Der Anspruch des Angeklagten ergebe sich insoweit aus Art. 4 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/2019. Zwar sei diese EU-Richtlinie nicht in nationales deutsches Recht umgesetzt, die Frist zur Umsetzung sei jedoch zwischenzeitlich abgelaufen. Ein Regierungsentwurf vom 12.6.2019 sehe die Umsetzung der Richtlinie vor. Damit seien die Regelungen der Richtlinie bei der Ermessensentscheidung angemessen zu würdigen und müssten in die Entscheidung mit einfließen.
Hinweis:
Das LG hat den ablehnenden Beschluss des AG aufgehoben und hat dem Angeklagten rückwirkend für die erste Instanz nachträglich einen Pflichtverteidiger beigeordnet. Dies sei – so das LG – ausnahmsweise zulässig, obwohl die erste Instanz bereits durch – nicht rechtskräftiges – Urteil beendet worden sei, da der Angeklagte noch ein Interesse an der nachträglichen Beiordnung habe. Auch nach der EU-Richtlinie könne für das weitere Verfahren die Beiordnung wieder aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen einer notwendigen Beiordnung, hier die Haft in anderer Sache, wieder wegfallen.
Das AG Freiburg hat in seinem Beschl. v. 5.8.2019 (JSch 19 Ge 64/19 jug, StRR 9/19, 13) ebenfalls unter Hinweis auf die Richtlinie nachträglich einen Pflichtverteidiger bestellt. Zwar ist das AG nach wie vor der Auffassung, dass eine Beiordn...