Exemplarisch soll auf Entscheidungen von Instanzgerichten zur Anwendung der noch nicht umgesetzten PKH-Richtlinie 2016/1919 hingewiesen werden (s. aber auch BGH, Beschl. v. 4.6.2019 – 1 BGs 170/19, ZAP EN-Nr. 608/2019; https://www.burhoff.de/asp_weitere_beschluesse/inhalte/5218.htm ). Das LG Chemnitz geht in seinem Beschl. v. 30.7.2019 (5 Qs 316/19, StRR 8/2019, 18 f.) davon aus, dass Regelungen aus Art. 4 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/2019 nach Ablauf der Umsetzungsfrist bei der Entscheidung über eine Pflichtverteidigerbestellung angemessen zu würdigen sind und in die Entscheidung mit einfließen müssen. Der Angeklagte befand sich in einem anderen Verfahren in Haft. Das AG hatte eine Pflichtverteidigerbestellung abgelehnt. Das LG hat nachträglich beigeordnet. Zwar habe sich der Angeklagte zum Zeitpunkt der amtsrichterlichen Entscheidung erst seit ca. sieben Wochen in Strafhaft befunden, so dass die Voraussetzungen des § 140 Abs. 1 Nr. 5 StPO noch nicht vorgelegen hätten. Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wäre aber nach Auffassung des LG vorliegend gem. § 140 Abs. 2 StPO geboten gewesen. Der Anspruch des Angeklagten ergebe sich insoweit aus Art. 4 Abs. 4 S. 2 i.V.m. Art. 3 der EU PKH-Richtlinie 2016/2019. Zwar sei diese EU-Richtlinie nicht in nationales deutsches Recht umgesetzt, die Frist zur Umsetzung sei jedoch zwischenzeitlich abgelaufen. Ein Regierungsentwurf vom 12.6.2019 sehe die Umsetzung der Richtlinie vor. Damit seien die Regelungen der Richtlinie bei der Ermessensentscheidung angemessen zu würdigen und müssten in die Entscheidung mit einfließen.
Hinweis:
Das LG hat den ablehnenden Beschluss des AG aufgehoben und hat dem Angeklagten rückwirkend für die erste Instanz nachträglich einen Pflichtverteidiger beigeordnet. Dies sei – so das LG – ausnahmsweise zulässig, obwohl die erste Instanz bereits durch – nicht rechtskräftiges – Urteil beendet worden sei, da der Angeklagte noch ein Interesse an der nachträglichen Beiordnung habe. Auch nach der EU-Richtlinie könne für das weitere Verfahren die Beiordnung wieder aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen einer notwendigen Beiordnung, hier die Haft in anderer Sache, wieder wegfallen.
Das AG Freiburg hat in seinem Beschl. v. 5.8.2019 (JSch 19 Ge 64/19 jug, StRR 9/19, 13) ebenfalls unter Hinweis auf die Richtlinie nachträglich einen Pflichtverteidiger bestellt. Zwar ist das AG nach wie vor der Auffassung, dass eine Beiordnung grds. dann nicht mehr veranlasst sei, wenn eine erste Beschuldigtenvernehmung nicht mehr zu erwarten sei. Dies könne jedoch dann nicht gelten, wenn bereits eine Beschuldigtenvernehmung – wie im vom AG entschiedenen Fall wegen des Verdachts der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung – durchgeführt wurde, ohne dass ein Verteidiger bestellt wurde, und der ordnungsgemäß belehrte Beschuldigte dies berechtigterweise zum Anlass genommen habe, einen Verteidiger zu konsultieren, der in der Folge im Ermittlungsverfahren auch tätig gewesen sei. Diese Auslegung steht nach Auffassung des AG in Übereinstimmung mit Art. 2 Abs. 3 der Richtlinie 2016/1919, der bestimme, dass die Beiordnungsvorschriften sogar auch für Personen gelten, die ursprünglich nicht Verdächtige oder beschuldigte Personen waren, aber während der Befragung durch die Polizei oder eine andere Strafverfolgungsbehörde zu Verdächtigen oder beschuldigten Personen werden.
Hinweis:
Es ist m.E. zutreffend, wegen des (verpassten) Zeitpunkts der Beiordnung auf die RiLi zurückzugreifen und sich nicht auf das Argument: Nachträgliche Beiordnung nicht zulässig, zurückzuziehen. Das Argument wird in Zukunft unter Anwendung der RiLi eh kaum mehr gegen eine nachträgliche Beiordnung angeführt werden können, wenn die rechtzeitige Beiordnung verpasst worden ist (vgl. dazu auch schon LG Köln, Beschl. v. 9.4.2018 – 101 Qs 21/18; zur nachträglichen Beiordnung Burhoff, EV, Rn 3331 ff. m.w.N.).
Das KG hat schließlich in einem Beschl. v. 4.7.2019 (4 Ws 62/19 – 161 AR 138/19, StRR 10/2019, 17) ausgeführt, dass eine unmittelbare Anwendbarkeit der Richtlinie nach dem Verstreichen der Umsetzungsfrist zweifellos in Bezug auf die in Art. 4 Abs. 4 S. 2 formulierten Fälle (Beschuldigter bereits in Haft oder anstehende Entscheidung über eine Haft) erforderlich sei. Darüber hinaus aber gebiete die Richtlinie nicht die Erweiterung des Anwendungsbereichs der notwendigen Verteidigung auf (alle) Fälle, in denen einem Beschuldigten in einem Ermittlungsverfahren ein Tatvorwurf eröffnet wird. Vielmehr ergebe sich aus Art. 4 Abs. 1 sowie 2 und Abs. 4 S. 1 der Richtlinie, dass den Mitgliedstaaten die Befugnis eingeräumt ist, eine Prüfung materieller Kriterien, wie der Schwere der Straftat, der Komplexität des Falls und der Schwere der zu erwartenden Strafe vorzusehen.
Hinweis:
Es ist zu hoffen, dass das nicht der erste Vorbote einer restriktiven Auslegung der PKH-RiLi ist.