I. Ermittlungsverfahren
1. Pflichtverteidigungsfragen (§§ 140 ff. StPO)
a) Allgemeines
Durch das „Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung v. 10.12.2019” (BGBl I, S. 2128), das am 13.12.2019 in Kraft getreten ist, ist das Recht der Pflichtverteidigung neu geregelt worden. Dieses Gesetz hat die EU-RiLi 1916/2020 umgesetzt. Über die Neuregelungen hat jeweils Hillenbrand in ZAP F. 22, S. 983 ff. und in StRR 3/2020, 5 u. 4/2020, 5 berichtet (vgl. a. noch Spitzer, StV 2020, 418).
Inzwischen liegt zu den Neuregelungen einiges an Rechtsprechung vor. Der Schwerpunkt liegt derzeit offensichtlich bei der Frage der nachträglichen/rückwirkenden Bestellung eines Pflichtverteidigers. Hier scheint es – wie auch in der Rechtsprechung zum alten Recht – auf eine Zweiteilung hinauszulaufen: Auf der einen Seite stehen die LG und AG, die weitgehend auch zum neuen Recht die Auffassung vertreten, dass eine rückwirkende Bestellung zulässig ist. Ihnen gegenüber dürfte dann auch in Zukunft die Rechtsprechung der OLG und einiger LG stehen, die – mit alten Argumenten – das als nicht zulässig ansehen. Darauf deuten jedenfalls die ersten bekannt gewordenen OLG-Entscheidungen hin.
b) Rechtsprechungsübersicht
Die bisher vorliegende Rechtsprechung ist in der nachfolgenden Rechtsprechungsübersicht zusammengestellt. Sie hat den Stand vom 3.12.2020 und schließt teilweise an ZAP F. 22 R, S. 1143, 1147 ff. an.
Beschleunigtes Verfahren
Bei § 142 StPO n.F. handelt es sich nicht (mehr) um eine Soll-Vorschrift, von der wegen eines beschleunigten Verfahrens eine Ausnahme möglich wäre. Vielmehr hat die Anhörung des Beschuldigten zur Bestellung eines Pflichtverteidigers ausnahmslos zu erfolgen und ist allenfalls dann entbehrlich, wenn ein Beschuldigter bereits einen bestimmten Verteidiger benannt hat (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 21.8.2020 – 3 Qs 117/20, StraFo 2020, 457).
Bestellung, Allgemeine Voraussetzungen
Es steht der Bestellung eines Pflichtverteidigers nicht entgegen, dass der Angeschuldigte einen Wahlverteidiger hat, wenn dieser erklärt hat, im Falle seiner Beiordnung das Wahlmandat niederzulegen. Diese Erklärung genügt auch nach § 141 Abs. 1 StPO in der seit 13.12.2019 geltenden Fassung dem Erfordernis, dass der Angeschuldigte noch keinen Verteidiger hat (LG Aurich, Beschl. v. 5.5.2020 – 12 Qs 78/20; LG Magdeburg, Beschl. v. 20.2.2020 – 29 Qs 2/20; Beschl. v. 15.5.2020 – 21 Qs 47 u. 48/20). Die Niederlegung muss aber erklärt werden (LG Würzburg, Beschl. v. 10.11.2020 – 6 Qs 197/20).
Unverzüglich i.S.d. §§ 141 Abs. 1, 142 Abs. 1 StPO bedeutet, dass die Pflichtverteidigerbestellung zwar nicht sofort, aber doch so rechtzeitig zu erfolgen hat, dass Verteidigungsrechte gewahrt werden. Grundsätzlich ist hierunter eine Prüfungs- und Überlegungsfrist von einer maximal zwei Wochen zu verstehen (LG Bochum NStZ-RR 2020, 352). Für die Frage, ob dem Beschuldigten der Tatvorwurf i.S.v. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO bereits eröffnet ist, genügt es, dass der Beschuldigte durch amtliche Mitteilung oder auf sonstige Art und Weise vom Tatverdacht gegen ihn Kenntnis erlangt hat. Inwieweit der Beschuldigte schon Kenntnis hat, hängt also nicht von einer förmlichen Beschuldigtenvernehmung ab, sondern davon, ob er tatsächlich Kenntnis hat bzw. hatte (LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 65/20). Das AG Detmold war unzutreffend davon ausgegangen, dass dann, wenn der Beschuldigte von seinem Schweigerecht Gebrauch macht, die Voraussetzungen des § 141 Abs. 1 StPO für die Bestellung eines Pflichtverteidigers im Ermittlungsverfahren nicht vorliegen sollten, auch wenn gegen den Beschuldigten ein Verbrechensverdacht besteht (AG Detmold, Beschl. v. 6.32020 – 2 Gs 514/20, StRR 4/2020, 23 m. abl. Anm. Hillenbrand). Zutreffend ist der die AG Entscheidung aufhebende Beschluss des LG Detmold (Beschl. v. 5.5.2020 – 23 Qs 31/20).
Bestellung, Ausnahme
Die Möglichkeit, von einer Bestellung in denjenigen Fällen abzusehen, in denen beabsichtigt ist, das Verfahren alsbald einzustellen, gilt ausdrücklich nicht für Fälle einer notwendigen Verteidigung nach § 141 Abs. 1 S. 1 StPO (LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 – 7 Qs 114/20). Die Ausnahmevorschrift des (neuen) § 141 Abs. 2 S. 3 StPO, wonach die Bestellung unterbleiben kann, wenn beabsichtigt wird, das Verfahren alsbald einzustellen, betrifft nach ihrem eindeutigen Wortlaut nur die Fälle der antragsunabhängigen Beiordnung von Amts wegen nach § 141 Abs. 2 Nr. 2 und 3 StPO, nicht aber die Beiordnung auf Antrag gem. § 141 Abs. 1 S. 1 StPO (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 27.8.2020 – 3 Qs 121/20, StRR 10/2020, 20; LG Magdeburg, Beschl. v. 24.7.2020 – 25 Qs 65/20, StRR 9/2020, 23; LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 19.10.2020 – 1 Qs 53/20).
Bestellung, Fälle des § 140 StPO
(LG Bochum NStZ-RR 2002,352). Gemäß § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn zu erwarten ist, dass die Verhandlung vor dem Schöffengericht stattfindet. Diese Erwartung ist im Zwischenverfahren immer dann zu bejahen, wenn Anklage zum Schöffengericht erhoben wird (LG Saarbrücken, Beschl. v. 11.2.2020 – 3 Qs 11...