Über die Ende 2019 erfolgten Änderungen im Recht der Pflichtverteidigung (vgl. BGBl I, S. 2128) wurde schon berichtet (vgl. Hillenbrand ZAP F. 22, S. 998). Seitdem haben sich viele Gerichte mit den Neuregelungen befasst (vgl. dazu die Rechtsprechungsübersicht von Burhoff ZAP F. 22 R, S. 1181 ff. und Hillenbrand ZAP F. 22 S. 1047 sowie zuletzt Burhoff StraFo 2021, 486 ff.). Hier soll noch einmal auf einen Hauptstreitpunkt, den auch die Neuregelung nicht beseitigt hat, hingewiesen werden, nämlich die Frage der Zulässigkeit der (nachträglichen/rückwirkenden) Pflichtverteidigerbestellung. Dabei geht es i.d.R. darum, dass der Rechtsanwalt rechtzeitig einen Beiordnungsantrag gestellt hat, der nicht beschieden worden ist. Wenn der Rechtsanwalt dann nach Einstellung des Verfahrens, meist nach § 154 StPO, an seinen Antrag erinnert, wird ihm häufig entgegengehalten, dass nach Beendigung des Verfahrens eine Bestellung des Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger nicht mehr in Betracht komme.
Dazu ist von der h.M. in der Rechtsprechung der LG schon zum früheren Recht vertreten worden, dass diese Sicht unzutreffend ist. Diese Rechtsprechung hat sich zum neuen Recht fortgesetzt und verstärkt. Inzwischen wird die Auffassung auch von einigen OLG vertreten (OLG Bamberg, Beschl. v. 29.4.2021 – 1 Ws 260/21, StRR 8/2021, 19 m. Anm. Hillenbrand = NStZ-RR 2021, 315 [Ls.]; OLG Nürnberg, Beschl. v. 6.11.2020 – Ws 962/20, StraFo 2021, 71 = StV 2021, 153 = StRR 1/2021, 21; wegen weiterer Nachweise aus der Rechtsprechung der AG und LG Burhoff StraFo 2021, 492 [s. dortige Fn 103-105]).
Die bislang zu der Problematik vorliegende Rechtsprechung lässt sich dahin zusammenfassen, dass danach die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch noch nach Beendigung des Verfahrens zu erfolgen hat, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zu dem Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung aufgrund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde (so z.B. LG Stuttgart, Beschl. v. 21.9.2021 – 9 Qs 62/21, StRR 11/2021, 17). Die Rechtsprechung geht davon aus, dass die nachträgliche Verteidigerbestellung grds. unzulässig ist. Das könne aber dann nicht gelten, wenn die in § 140 StPO normierten Beiordnungsvoraussetzungen zum Zeitpunkt der Antragstellung vorlagen und die Entscheidung über den Antrag aus vom Angeklagten nicht zu vertretenden und von ihm nicht beeinflussbaren Gründen wesentlich verzögert wurde oder unterblieben (OLG Bamberg, a.a.O.; OLG Nürnberg, a.a.O.). Ein genereller Ausschluss der nachträglichen Beiordnung sei spätestens seit der Reform des Rechts der Pflichtverteidigung durch das Gesetz zur Neuregelung der notwendigen Verteidigung vom 10.12.2019 ausgeschlossen; dies wäre – so das LG – mit der der Reform zugrunde liegenden Richtlinie 2016/1919/EU nicht vereinbar. Die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers diene nämlich nicht ausschließlich dessen Gebühreninteresse, sondern auch den Interessen eines Angeklagten an einer ordnungsgemäßen Verteidigung und damit einhergehend der Sicherung eines fairen Verfahrens. Darüber hinaus habe der Gesetzgeber mit der Einführung des Unverzüglichkeitsgebots in § 141 Abs. 1 StPO klar zum Ausdruck gebracht, dass es seine Absicht war, bei Vorliegen der in § 140 StPO normierten Beiordnungsvoraussetzungen jedem Beschuldigten ab der Eröffnung des Tatvorwurfs unabhängig von seinen finanziellen Verhältnissen die Möglichkeit der Einholung kompetenten Rats zwecks bestmöglicher Wahrnehmung seiner Interessen zur Verfügung zu stellen. Der Beiordnungszeitpunkt sollte, was sich überdies auch aus den Änderungen in § 140 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 7 StPO ergebe, vorverlagert werden. Dieser gesetzgeberischen Absicht liefe es zuwider, ließe man ein Zuwarten mit der Verbescheidung von Beiordnungsanträgen bzw. Rechtsmitteln gegen ablehnende Entscheidungen zu.
Hinweis:
Die h.M. in der Rechtsprechung der LG/AG, die die rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers als zulässig ansieht, ist zutreffend. Von den OLG haben sich dieser zutreffenden Ansicht bisher leider nur OLG Bamberg und OLG Nürnberg (jeweils a.a.O.) angeschlossen. Die anderen OLG, die nach dem Inkrafttreten der Neuregelung des Rechts der Pflichtverteidigung zu der Frage bisher Stellung genommen haben (KG, Beschl. v. 4.9.2020 – Ws 217/19; OLG Brandenburg, Beschl. v. 9.3.2020 – 1 Ws 19/20 u. 1 Ws 20/20, NJW 2020, 625 = StRR 12/2020, 25; OLG Braunschweig, Beschl. v. 2.3.2021 – 1 Ws 12/21; OLG Bremen, Beschl. v. 23.9.2020 – 1 Ws 120/20, NStZ 2021, 253 = StRR 12/2020, 25; OLG Hamburg, Beschl. v. 16.9.2020 – 2 Ws 112/20, StraFo 2020, 486), haben an der alten Rechtsprechung festgehalten, was aus den u.a. vom LG Stuttgart (a.a.O.) zutreffend dargelegten Gründen nicht nachvollziehbar ist. Zumal die OLG sich zum Teil auch auf Rechtsprechung zum früheren Recht bezogen haben, die auf das neue Rec...