Die Haftgründe der Flucht bzw. Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 StPO) spielen in der Praxis eine erhebliche Rolle, da die Mehrzahl der Haftbefehle auf einen dieser Haftgründe gestützt wird. Mit den damit zusammenhängenden Fragen hat sich jetzt noch einmal das OLG Stuttgart (Beschl. v. 15.7.2022 – 4 Ws 302/22, StRR 8/2022, 30) befasst. In dem Verfahren war der Haftgrund der „Flucht” von AG und LG u.a. damit begründet worden, dass der Angeklagte, der umgezogen war, für einige Zeit nicht auffindbar gewesen sei.

Das hat das OLG Stuttgart (a.a.O.) anders gesehen: Zwar sei der Angeklagte nicht nur in dieser Sache, sondern auch in weiteren Verfahren für die Strafverfolgungsbehörden einige Zeit nicht erreichbar gewesen. Auch habe er es versäumt, seine aktuelle Anschrift mitzuteilen bzw. sich ordnungsgemäß umzumelden. Dies rechtfertigte aber die Anordnung bzw. Fortdauer der Untersuchungshaft nicht. Denn der Haftgrund der Flucht sei – so das OLG – nicht schon dann gegeben, wenn sich der Beschuldigte von seinem bisherigen Lebensmittelpunkt absetzt. Vielmehr müsse in subjektiver Hinsicht hinzukommen, dass der Wechsel des Wohn- oder Aufenthaltsorts erfolge, um zumindest auch in einem Strafverfahren unerreichbar zu sein und sich dem behördlichen Zugriff zu entziehen (BeckOk StPO/Krauß, 43. Ed., § 112 Rn 18). Es müsse sich aus den Gesamtumständen der Wille des Angeklagten ergeben, sich dem Verfahren nicht stellen zu wollen (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 14.12.2016 – 2 Ws 343/16). Bloße Nachlässigkeit, und sei sie auch noch so unverständlich, begründe den Haftgrund der Flucht dagegen nicht. Das OLG verweist u.a. darauf, dass gegen ein zielgerichtetes Untertauchen des Angeklagten schon spreche, dass der Angeklagte an seiner neuen Wohnung sowohl am Klingelschild als auch auf dem Briefkasten jeweils seinen Namen angebracht habe. Hinzu kam, dass der Angeklagte über seinen Verteidiger sowohl telefonisch als auch schriftsätzlich seine neue Anschrift hatte mitteilen lassen.

Das OLG (a.a.O.) hat zudem das Vorliegen hinreichend konkreter Tatsachen, auf die die Annahme von Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO gestützt werden könnte, verneint. Auch wenn der Angeklagte im Fall der Verurteilung wegen der ihm zur Last gelegten Vergewaltigung eine nicht unerhebliche Freiheitsstrafe zu erwarten habe, könne die Straferwartung allein eine Fluchtgefahr nicht begründen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 65. Aufl. 2022, § 112, Rn 24). Darüber hinaus habe sich der Angeklagte dem bisherigen Verfahren gestellt. Insbesondere sei er zu den Hauptverhandlungsterminen jeweils erschienen.

 

Hinweis:

Die zutreffende Entscheidung ist ein schöner Beleg dafür, dass die Kontrollmechanismen auch im Haftrecht noch funktionieren. Man ist zudem erfreut über den Hinweis des Senats an die Strafkammer, dass man die Anschrift des Angeklagten beim Verteidiger hätte abklären können. Das OLG geht also von der Notwendigkeit einer solchen Anfrage aus, wobei dahin gestellt bleiben soll, ob darauf eine Antwort erfolgt. Aber: Fragen kann man ja mal (zu den Haftfragen eingehend Burhoff/Burhoff, EV/HV, Rn 4461 ff. m.w.N.).

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