(BVerfG, Urt. v. 22.11.2023 – 1 BvR 2577/15) • Eine Behinderung im verfassungsrechtlichen Sinne liegt vor, wenn eine Person infolge eines regelwidrigen körperlichen, geistigen oder psychischen Zustandes in der Fähigkeit zur individuellen und selbstständigen Lebensführung längerfristig beeinträchtigt ist. Geringfügige Beeinträchtigungen sind nicht erfasst, sondern nur Einschränkungen von Gewicht. Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG findet auch Anwendung auf Benachteiligungen von Menschen mit einer bestimmten Behinderung gegenüber Menschen mit einer anderen Behinderung. Der Anwendungsbereich von Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ist auch dann eröffnet, wenn eine rechtliche Gleichbehandlung typischerweise und nach Art und Umfang vorhersehbar faktische Benachteiligungen wegen einer Behinderung zur Folge hat (im Anschluss an BVerfGE 128, 138, 156). Ziel schulischer Bildung ist auch die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler zu Persönlichkeiten, die ihre individuelle Leistungsfähigkeit unabhängig von ihrer sozialen Herkunft entfalten und im Anschluss an die Schule ihrer Leistungsfähigkeit und Neigung entsprechend Ausbildungsgänge und Berufe frei wählen und zur Grundlage einer eigenverantwortlichen Lebensführung machen können. Dazu gehört es, der ungehinderten Entfaltung des individuell vorhandenen Leistungspotenzials entgegenstehende soziale Nachteile möglichst auszugleichen und vorhandene Begabungen durch ein differenziertes Bildungsangebot zu wecken und zu fördern. Unverzichtbar ist ein Bildungsangebot, das den Schülerinnen und Schülern zumindest die Chance eröffnet, sich zu Persönlichkeiten entwickeln zu können, die unabhängig von ihrer sozialen Herkunft in der Lage sind, überhaupt eine Ausbildung oder einen Beruf ergreifen zu können. Das Abiturzeugnis dient als Nachweis der allgemeinen Hochschulreife dem nach Art. 7 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 12 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG mit Verfassungsrang versehenen Ziel, allen Schülerinnen und Schülern die gleiche Chance zu eröffnen, entsprechend ihren erbrachten schulischen Leistungen und persönlichen Fähigkeiten Zugang zu Ausbildung und Beruf zu finden. Diesem Ziel wird der Gesetzgeber in besonderem Maße gerecht, wenn alle Prüflinge dieselben schulisch erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten unter denselben Voraussetzungen nachweisen müssen und die unterschiedliche Qualität der gezeigten Leistungen durch eine differenzierte Notengebung genau erfasst und in allen Abschlusszeugnissen aussagekräftig und vergleichbar dokumentiert wird. Bemerkungen in Schulabschlusszeugnissen über eine ansonsten nicht erkennbare, von den allgemeinen Prüfungsmaßstäben abweichende und auf Antrag erfolgte Nichtbewertung von Leistungen wegen behinderungsbedingter Einschränkungen sind zur Sicherung eines leistungsbezogen chancengleichen Zugangs zu Ausbildung und Beruf vor Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG grundsätzlich gerechtfertigt, wenn sie so umfassend erfolgen, dass insgesamt eine hinreichende Transparenz der Zeugnisse erreicht wird. Solche Bemerkungen sind jedenfalls in Abiturzeugnissen, die mit dem Nachweis der allgemeinen Hochschulreife einen grundsätzlichen Anspruch auf Studienzulassung für alle Fächer vermitteln, im Grundsatz geboten.
ZAP EN-Nr. 678/2023
ZAP F. 1, S. 1197–1198