Nach dem Inkrafttreten der Neuregelungen im Recht der Pflichtverteidigung in den §§ 140 ff. StPO Ende 2019 ist die Rechtsprechung derzeit damit befasst, die Probleme, die sich durch das neue Recht ergeben haben, zu klären (zur Rechtsprechung aus der ersten Zeit ZAP 2023, 340 ff.). Auf folgende drei (Streit-)Fragen ist hinzuweisen:
a) Rückwirkende Bestellung eines Pflichtverteidigers
Eines der Hauptprobleme, wenn nicht das Hauptproblem, ist die Frage, ob eine rückwirkende Bestellung des Pflichtverteidigers nach Beendigung des Verfahrens zulässig ist. Diese ergibt sich meist, wenn über den Beiordnungsantrag des Pflichtverteidigers noch nicht entschieden ist, das Verfahren aber schon eingestellt wird. Dabei handelt es sich meist um Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft das Verfahren nach § 154 StPO einstellt oder eingestellt hat, bevor das Gericht entschieden hat. Zu der Frage stehen sich zwei Ansicht gegenüber.
Die m.E. – zumindest bei den LG und AG – h.M. geht nach wie vor davon aus, dass die rückwirkende Beiordnung eines Pflichtverteidigers auch noch nach Beendigung des Verfahrens (zumindest dann) zu erfolgen hat, wenn der Beiordnungsantrag bereits vor Verfahrensbeendigung gestellt worden ist, die Voraussetzungen für eine Beiordnung zum damaligen Zeitpunkt vorlagen und eine Entscheidung über den Beiordnungsantrag vor Verfahrensbeendigung unterblieben ist, weil die Beschlussfassung aufgrund justizinterner Vorgänge wesentlich verzögert wurde (aus neuerer Zeit u.a. OLG Stuttgart, Beschl. v. 15.12.2022 – 4 Ws 529/22, StraFo 2023, 234 = AGS 20232, 140 = StRR 3/2023, 19; LG Berlin, Beschl. v. 21.9.2023 – 517 Qs 33/23; LG Gießen, Beschl. v. 26.6.2023 – 1 Qs 12/23; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 17.3.2023 – 5 Qs 9/23; LG Kiel, Beschl. v. 27.7.2022 – 5 Qs 67/22, StV-S 2023, 35 [Ls.]; LG Köln, Beschl. v. 23.3.2023 – 105 Qs 89/22; LG Köln, Beschl. v. 16.6.2023 – 111 Qs 26/23, StraFo 2023, 318; LG Lüneburg, Beschl. v. 2.3.2023 – 45 Qs 2/23 bis 45 Qs 33/23; LG Magdeburg, Beschl. v. 11.1.2023 – 25 Qs 91/22; LG Mainz, Beschl. v. 11.10.2022 – 1 Qs 39/22; LG Saarbrücken, Beschl. v. 14.4.2023 – 4 Qs 14/23, StraFo 2023, 231; LG Verden, Beschl. v. 10.10.2022 – 3 Qs 64/22, StV 2023, 158 [JGG-Verfahren]; AG Amberg, Beschl. v. 19.9.2023 – 6b GS 2051/23; AG Amberg, Beschl. v. 17.10.2023 – 4 Gs 2469/23 jug; AG Halle, Beschl. v. 8.9.2023 – 397 Gs 193 Js 32985/21 (635/22); AG Koblenz, Beschl. v. 20.3.2023 – 30 Gs 2593/23; AG Koblenz, Beschl. v. 10.7.2023 – 30 Gs 5496/23; AG Zweibrücken, Beschl. v. 29.3.2023 – 1 Gs 295/23; LG Weiden i.d. OPf., Beschl. v. 31.3.2023 – 2 Qs 3/23; weitere Rechtsprechung in ZAP 2023, 345). Die Voraussetzungen für eine Pflichtverteidigerbestellung liegen im Übrigen auch dann vor, wenn das Verfahren unverzüglich nach Eingang bei der Staatsanwaltschaft nach § 154f StPO eingestellt worden ist (LG Leipzig, Beschl. v. 12.9.2023 – 13 Qs 242/23; LG Stade, Beschl. v. 25.4.2023 – 302 Qs 15/23).
In dem Zusammenhang spielt dann ggf. auch der unbestimmte Rechtsbegriff der „Unverzüglichkeit” aus § 141 Abs. 1 StPO eine Rolle. Der ist nicht nach Maßgabe eines bestimmten Zeitablaufs zu bemessen. Das LG Leipzig geht davon aus, dass ein Verstoß gegen die Unverzüglichkeit, ein schuldhaftes Zögern, nur dann gegeben sein soll, wenn die Ermittlungsbehörden (Staatsanwaltschaft und Polizei) einen Beiordnungsantrag pflichtwidrig übergehen und das Verfahren weiterbetreiben, insb. weitere Ermittlungshandlungen mit Außenwirkung und Beweiserhebungen zum Nachteil des Beschuldigten vornehmen bzw. anstrengen (LG Leipzig, Beschl. v. 2.8.2023 – 5 Qs 41/23). Das dürfte kaum dem Willen des Gesetzgebers entsprechen, wonach über Beiordnungsanträge auch im Ermittlungsverfahren zeitnah entschieden werden soll, ersichtlich zuwider.
Hinweis:
Eine entsprechende Anwendung des § 141 Abs. 2 S. 3 StPO auf die Fälle des § 141 Abs. 1 StPO ist aufgrund der eindeutigen Systematik des § 141 StPO ausgeschlossen (LG Dessau-Roßlau, Beschl. v. 11.5.2023 – 6 Qs 69/23; s. auch ZAP 2023, 341).
Abweichend von der o.a. Auffassung geht eine Teil der Rechtsprechung allerdings nach wie vor davon aus, dass eine rückwirkende nachträgliche Bestellung eines Rechtsanwalts zum Pflichtverteidiger nicht in Betracht kommen soll, was ggf. auch dann gelten soll, wenn das Verfahren insgesamt noch nicht abgeschlossen ist bzw. in den Fällen des § 154 Abs. 2 StPO (u.a. OLG Dresden, Beschl. v. 24.2.2023 – 2 Ws 33/23; OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 21.7.2023 – 5a Ws 1/21; LG Berlin, Beschl. v. 20.6.2023 – 534 Qs 97/23; LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 12.6.2023 – 5/27 Qs 22/23; LG Leipzig, Beschl. v. 11.9.2023 – 17 Qs 48/23; LG Münster, Beschl. v. 19.1.2023 – 11 Qs 48/22; LG Münster, Beschl. v. 4.4.2023 – 9 Qs 62/22; LG Stade, Beschl. v. 30.9.2021 – 102 Qs 41/21, StV 2023, 162 [Ls.]; LG Zweibrücken, Beschl. v. 5.9.2023 – 1 Qs 28/23; AG Amberg, Beschl. v. 21.7.2023 – 6b Gs 1771/23; AG Aurich, Beschl. v. 5.7.2023 – 9 Gs 1305/23; weitere Rechtsprechung ZAP 2023, 345). Abgesehen davon, dass von den Gerichten häufig mit Rechtsprechung zum alten Recht ...