Eine weitere Frage, die in der Praxis – v.a. auch gebührenrechtlich – eine erhebliche Rolle spielen kann, ist die, welche (gebührenrechtlichen) Auswirkungen die rückwirkende Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung hat. Dazu hat jetzt erstmals ein OLG Stellung genommen (OLG Nürnberg, Beschl. v. 18.7.2023 – Ws 133/23, NJW 2023, 2738 = JurBüro 2023, 415).
Nach dem Sachverhalt hatte das AG Amberg den Pflichtverteidiger rückwirkend bestellt. Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft (§ 142 Abs. 7 StPO) hat das LG den Beschluss aufgehoben und die rückwirkende Beiordnung des Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger abgelehnt. Der Rechtsanwalt hat dann gegenüber der Staatskasse seine Pflichtverteidigergebühren geltend gemacht. Die Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle des AG hat den Vergütungsfestsetzungsantrag zurückgewiesen. Die hiergegen erhobene Erinnerung hat das AG Amberg zurückgewiesen (vgl. AGS 2022, 506). Die dagegen eingelegte Beschwerde des Rechtsanwalts hatte beim LG Amberg keinen Erfolg (vgl. AGS 2023, 116). Die weitere Beschwerde des Rechtsanwalts führte dann aber beim OLG Nürnberg, a.a.O., zur Festsetzung der Gebühren des Pflichtverteidigers.
Der Rechtsanwalt sei, so führt das OLG aus, mit Beschluss des AG wirksam als Pflichtverteidiger gem. § 142 Abs. 2 StPO bestellt worden. Für die Wirksamkeit der Bestellung komme es nicht darauf an, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für die Bestellung vorliegen. Werde die Bestellung angeordnet, sei diese, jedenfalls zunächst, wirksam. Mit der Bestellung werde eine öffentlich-rechtliche Pflicht des Verteidigers zur sachgerechten Mitwirkung am Strafverfahren begründet (KK-StPO/Willnow, 9. Aufl. 2023, § 142 Rn 18), und zwar unabhängig davon, ob die Bestellungsentscheidung rechtskräftig werde. § 307 Abs. 1 StPO ordne an, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt werde. Es liege auch kein Fall vor, in dem gesetzlich ausnahmsweise die aufschiebende Wirkung angeordnet werde. Dies entspreche im Übrigen auch den Praxisanforderungen bei der Pflichtverteidigerbestellung: Nach §§ 141, 141a StPO sei in den Fällen der notwendigen Verteidigung bei verschiedenen Maßnahmen die oftmals kurzfristige Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich, deren Rechtskraft nicht abgewartet werden könne. Entsprechend dürfe der Pflichtverteidiger darauf vertrauen, für solche Tätigkeiten auch vergütet zu werden.
Die spätere Aufhebung der Pflichtverteidigerbestellung auf die Beschwerde der Staatsanwaltschaft hat nach Auffassung des OLG Nürnberg (a.a.O.) nicht dazu geführt, dass die Bestellung von Anfang an entfallen ist. Vielmehr trete diese Wirkung erst zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung ein. Grundsätzlich habe die Aufhebung einer angefochtenen Entscheidung durch das Rechtsmittelgericht zur Folge, dass diese seit dem Zeitpunkt ihres Erlasses, also rückwirkend, keine Wirkung entfaltet. Zwar habe der Gesetzgeber in § 142 Abs. 7 StPO keine davon abweichende Regelung für den Fall getroffen, dass die Bestellung eines Pflichtverteidigers auf ein Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft aufgehoben werde. Nach dem Sinn und Zweck der in § 141 Abs. 1 und 2 StPO angeordneten unverzüglichen oder kurzfristigen Verpflichtung zur Bestellung eines Pflichtverteidigers und der Regelung in § 307 Abs. 1 StPO, dass durch Einlegung der Beschwerde der Vollzug der angefochtenen Entscheidung nicht gehemmt werde, sei § 142 Abs. 7 StPO aber ergänzend dahingehend auszulegen, dass der wirksam, aber nicht rechtskräftig bestellte Pflichtverteidiger erst zu dem Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung durch das Beschwerdegericht entpflichtet werde. So bestehe zum einen kein Zweifel an der Wirksamkeit der bis dahin vorgenommenen Handlungen des Pflichtverteidigers und zum anderen werde so das Vertrauen des Pflichtverteidigers in seine Bestellung und damit die Begründung eines Vergütungsanspruchs gegen die Staatskasse geschützt (vgl. Volpert in: Burhoff/Volpert, RVG Straf- und Bußgeldsachen, 6. Aufl. 2021, Teil A Rn 2400). Damit habe der Rechtsanwalt gem. § 45 Abs. 3 S. 1 RVG Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit aus der Landeskasse mit der Konsequenz, dass gem. § 48 Abs. 6 S. 1 RVG auch die Tätigkeiten vor seiner Bestellung zu vergüten seien. Dies sei Folge der wirksamen Pflichtverteidigerbestellung durch das AG, ohne dass es darauf ankomme, ob diese geboten gewesen sei.
Hinweis:
Mit dieser OLG-Entscheidung liegt dann (endlich) die erste obergerichtliche Entscheidung zu der Problematik vor. Bisher hatten nur das LG Kaiserslautern (RVGreport 2019, 135 = JurBüro 2019, 245) und das AG Osnabrück (Beschl. v. 11.10.2021 – 202 Ds [211 Js 11318/21] 235/21, AGS 2021, 548) in dem richtigen Sinn, also wie das OLG, entschieden. Man fragt sich allerdings, warum in der Frage überhaupt der Weg zum OLG erforderlich war und ob nicht AG, LG und die beteiligten Vertreter der Staatskasse auch ohne Nachhilfe aus Nürnberg auf die richtige Lösung hätten kommen können. Die folgt im Übrigen nicht...