Erstens sind vor einem umfassenden ERV im Sinne eines obligatorischen EDV-Einsatzes in der Justiz grundlegende Veränderungen justizieller Strukturen bei allen damit befassten Akteuren notwendig. Dies ist dadurch bedingt, dass die Elektronifizierung der (Zivil-)Justiz und (zivil-)gerichtlicher Verfahren integraler Bestandteil einer Reform der Justizorganisation sein sollte. Obwohl die teilweise traditionell bedingten Schwerfälligkeiten, Umständlichkeiten und auch Aufwendigkeiten von Gerichtsverfahren und insbesondere der Gerichtsorganisation bereits im Rahmen der sog. Strukturanalyse der Rechtspflege (s. dazu m.w.N. Leutheusser-Schnarrenberger NJW 1995, 2441 ff.; Strempel/Rennig ZRP 1994, 144 ff.; Strempel/Götzel DRiZ 1990, 121 ff.) in einer Reihe von empirischen Untersuchungen erforscht und im Hinblick auf Lösungsmöglichkeiten analysiert worden sind, scheint es bis heute an nachhaltigen und transparenten Modernisierungsstrategien in Bund und Ländern zu fehlen.
Dies verwundert insbesondere angesichts dessen, dass als Ergebnis dieser Gutachten im Bereich der Justizorganisation bereits im Jahr 1995 besonders der Verbindung von "Organisationsmodernisierung" (d.h. der inneren Organisation der Gerichte und Staatsanwaltschaften) und dem EDV-Einsatz eine "herausragende Bedeutung bei der Stärkung der Funktionsfähigkeit der Justiz" zuerkannt worden ist (so Fiedler/Haft, Informationstechnische Unterstützung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtspflegern, 1992). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass seinerzeit danach nur eine "begrenzte Vernetzung" empfohlen worden war: So sollten die PC-Arbeitsplätze der Richter aus Gründen der Datensicherheit und des Datenschutzes nicht vollumfänglich mit den EDV-Anwendungen in Geschäftsstellen bzw. Service-Einheiten vernetzt werden. Diese Forderung ist – nicht nur, aber auch – angesichts der zahlreichen Zeit- und Streitfragen um die konkreten Auswirkungen der EU-DSGVO aktuell noch von Relevanz (s. zum "Datenschutz in der elektronischen Justiz" bereits die gleichnamige Dissertation von J. Klink, Univ. Kassel, 2010).
Ungeachtet der (damaligen) Erkenntnisse aus den Gutachten zur Justizorganisation (u.a. stellte die Organisation der Gerichte und der Prozessabläufe eines der Hauptforschungsfelder neben dem Verfahrensrecht dar: Allein acht Untersuchungen haben sich mit dem Forschungsbereich "Organisation" beschäftigt, s. u.a. Kötz/Frühauf, Organisation der Amtsgerichte, 1992) dauert die Modernisierung der inneren Organisation der Gerichte bis heute an. Dabei ist jedoch auch zu berücksichtigen, dass angesichts der bisherigen (jahrzehnte- bzw. sogar jahrhundertelangen) Defizite bezüglich zeitgemäßer Organisations- und Informationsstrukturen in der Justiz gravierende Reformhürden bestehen: Dies sind vor allem knappe Justizetats, teilweise Mangel an modernster EDV-Hardware (s. z.B. Streyl NJW-aktuell 39/2018, S. 17 zur Scanneranschaffung ohne Mittel für Softwarelizenzen), unzureichende Vernetzungen, Mangel an geschultem Personal und an doppelt qualifizierten Ausbildern. Insbesondere fällt auf, dass der EDV-Einsatz bisher häufig ohne organisatorische Änderungen durchgeführt worden ist – zu beobachten ist mithin vielerorts eine "Elektronifizierung der Rückständigkeit". So wurde die Chance, die Justizarbeitsorganisation durch die Möglichkeiten vernetzter EDV-Abläufe effektiv zu gestalten, bisher vielfach nicht genutzt, stattdessen wurden bestehende Arbeitsabläufe "nahezu 1:1 arbeitsplatzbezogen auf dem Rechner abgebildet" (so seinerzeit bereits Viefhues/Volensky DRiZ 1996, 13 ff., 14; s. auch aktuell Köbler NJW-aktuell 42/2018, S. 17: "eine der Papierakte nachempfundene elektronische Akte"; Streyl NJW-aktuell 39/2018, S. 17).
Auffällig ist weiterhin die bisher "außerordentlich heterogene" EDV-Landschaft in der Justiz und die an traditionellen Strukturen festhaltende binnenjustizielle Arbeitsorganisation. Daher helfen auch hohe Investitionen in Gebäude, EDV-Anlagen und Fortbildungen gerade im letzten Jahrzehnt sehr wenig, wenn die zugrunde liegenden herkömmlichen Organisationskonzepte und Führungsstrukturen die Arbeitswelt der Justizbeschäftigten prägen – und damit letztlich die Vergangenheit auch die Gegenwart und Zukunft der "Unternehmenskultur" des "Dienstleistungsbetriebs" Rechtspflege bestimmt (s. bereits krit. Strempel/Götzel DRiZ 1990, 121 ff., 125). Dies ist auch im Jahr 2018 noch virulent, man denke hier nur an die nach wie vor bestehende "föderale Zersplitterung" (so Jost/Kempe NJW 2017, 2705 ff., 2706) durch diverse IT-Landschaften zur Einführung der elektronischen Gerichtsakte.
Hinweis:
Bekanntlich sind die deutschen Bundesländer derzeit im Wesentlichen in zwei IT-Verbünde aufgespalten, es besteht der sog. e2-Verbund (d.h. "elektronisch" und "ergonomisch"), an dem die Bundesländer Nordrhein-Westfalen (federführend), Hessen, Niedersachsen, Bremen und Sachsen-Anhalt sowie das Saarland teilnehmen, während die übrigen Bundesländer dem forumSTAR-Verbund (unter der Federführ...