Die Berufung des Angeklagten kann, wenn der Angeklagte ausgeblieben ist, nicht – die Zulässigkeit einer Verwerfung unterstellt – unmittelbar nach Beginn des Berufungshauptverhandlungstermins (s. dazu Burhoff ZAP F. 22, S. 953 [III.]) verworfen werden. Vielmehr muss das Gericht eine angemessene Zeit warten. Für die Wartezeit gelten auf der Grundlage der insoweit nach wie vor anwendbaren Rechtsprechung zur Fassung des § 329 Abs. 1 StPO a.F. (vor Inkrafttreten des "Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungshauptverhandlung und über die Anerkennung von Abwesenheitsentscheidungen in der Rechtshilfe" am 25.7.2015, vgl. BGBl I, S. 1332) etwa folgende Grundsätze:
Angemessen dürfte eine Wartezeit von mindestens etwa (10 bis) 15 Minuten sein (s. z.B. BerlVerfGH NJW 2004, 1158; KG NStZ-RR 2002, 218; StV 2014, 12 [Ls.]; VRR 2/2017, 18; OLG Bamberg VRR 2012, 276; OLG Frankfurt NStZ-RR 2012, 258; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 251; OLG Jena VRS 122, 227; OLG Köln JMBl. NW 1972, 63; StV 2014, 209 [Ls.]; StraFo 2013, 251; OLG Koblenz DAR 1980, 280; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 24.10.2016 – 1 OLG 1 Ss 74/16; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, § 329 Rn 13 m.w.N. [im Folgenden kurz: Meyer-Goßner/Schmitt]; s. aber auch BerlVerfGH NJW-RR 2000, 1451 [ggf. auch erheblich darüber hinaus für OWi-Verfahren]). Die Wartezeit beginnt mit der angesetzten Terminszeit (OLG Düsseldorf NStZ-RR 2001, 303; s. inzwischen auch OLG Frankfurt NStZ-RR 2012, 258, unter Aufgabe von OLG Frankfurt NStZ-RR 2001, 85). In einer (späteren) Rechtsmittelbegründung muss die angesetzte Terminszeit vorgetragen werden (OLG Düsseldorf a.a.O.).
Hinweis:
Diese Wartezeit kann (und muss) der Verteidiger nutzen, um sich zu erkundigen, wo der Angeklagte bleibt, ob er tatsächlich überhaupt nicht erscheint oder ob er sich nur verspätet.
Das Gericht muss nach den Grundsätzen des fairen Verfahrens, und zwar auch bei unentschuldigtem Fernbleiben, länger warten, wenn die Verspätung angekündigt worden ist und/oder wenn Anhaltspunkte für ein alsbaldiges Erscheinen bestehen (BerlVerfGH NJW-RR 2000, 1451; KG NStZ-RR 2002, 218; VRR 2/2017, 18; OLG Brandenburg StraFo 2012, 270; StRR 2011, 345 [75 Minuten Verspätung]; OLG Frankfurt NStZ-RR 1998, 211 [Ls.]; OLG Hamm NStZ-RR 1997, 368; OLG Köln NZV 1997, 494; StV 2014, 209 [Ls.]; StraFo 2013, 251; OLG München zfs 2007, 588; OLG Zweibrücken VRS 112, 122). Das gilt auch, wenn es die anderen Verfahrensbeteiligten eilig haben (KG VRR 2/2017, 18 [für Bußgeldverfahren]). Ein Fall angekündigter Verspätung ist auch dann gegeben, wenn die Ankündigung nur die Geschäftsstelle, nicht aber den Richter erreicht. Dieser muss sich dort erkundigen (OLG Köln a.a.O. [für Verwerfungsurteil]). Der Verteidiger sollte daher auf jeden Fall das Gericht über eine Verspätung informieren. Das Gericht muss sich aber nicht auch noch bei der allgemeinen gerichtlichen Eingangsstelle erkundigen (OLG Bamberg NStZ-RR 2009, 149; s. aber OLG Bamberg NStZ-RR 2008, 86 [für einen vier Stunden vor der Hauptverhandlung eingegangenen Antrag]).
Hinweis:
Teilt der Verteidiger in der Wartezeit mit, dass der Angeklagte nicht fernbleiben wollte, er sich vielmehr, nachdem ihm der Termin in Erinnerung gebracht worden war, auf den Weg zum Gericht gemacht hat, kann/darf die Berufung nicht verworfen werden, bevor der Angeklagte überhaupt eingetroffen sein kann (OLG Brandenburg a.a.O.; OLG Köln a.a.O.; OLG München a.a.O.).
Längeres Warten ist auch dann erforderlich, wenn den Angeklagten an der Verspätung kein Verschulden trifft (KG StV 2014, 12 [Ls.]; VRR 2/2017, 18 [Stau]; OLG Hamm NStZ-RR 2009, 251; OLG Köln StV 2014, 209 [Ls., witterungsbedingte Verspätung]) bzw. auch dann, wenn der Vorsitzende dem nicht erschienenen Angeklagten durch den Verteidiger hat ausrichten lassen, er solle auf jeden Fall noch zum Gericht kommen. Dann muss zumindest so lange gewartet werden, wie mit dem Eintreffen des Angeklagten noch gerechnet werden kann (OLG Köln StraFo 2004, 143). Die Verwerfung der Berufung kann in diesen Fällen auch nicht allein mit dem Hinweis auf die enge zeitliche Folgeterminierung am Verhandlungstag begründet werden (OLG München wistra 2008, 480; ähnlich KG a.a.O.). Auf ein etwaiges späteres Erscheinen eines mit einer völlig unzureichenden Entschuldigung der Verhandlung ferngebliebenen Angeklagten muss das Berufungsgericht aber grundsätzlich nicht warten (OLG Oldenburg NJW 2009, 1762).