In der Praxis spielen im Recht der Pflichtverteidigung die mit § 48 Abs. 6 RVG zusammenhängenden Fragen in den Fällen der Verbindung mehrerer Verfahren eine große Rolle (dazu eingehend Burhoff/Volpert/Burhoff, a.a.O., § 48 Abs. 6 und Gerold/Schmidt/Burhoff, RVG, 24. Aufl., § 48 Rn 194 ff.; Burhoff, StraFo 2014, 454; ders. RVGreport 2008, 129). Dabei geht es immer um die Frage, ob der Verteidiger auch in den Verfahren die gesetzlichen Gebühren geltend machen kann, in denen er (noch) nicht zum Pflichtverteidiger bestellt war. Dazu ist in § 48 Abs. 6 S. 3 RVG die sog. Erstreckung vorgesehen. In dem Zusammenhang ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten (gewesen), ob ein anwaltlicher Vergütungsanspruch für frühere Tätigkeiten in Verfahren, die vor der Beiordnung hinzuverbunden wurden, bereits aus § 46 Abs. 6 S. 1 RVG folgt und ob demgemäß der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG entsprechend auf Fälle beschränkt ist, in denen nach einer Beiordnung noch weitere Verfahren hinzuverbunden werden.
Beispiel:
Die Staatsanwaltschaft hat gegen den Angeklagten ursprünglich zwei Ermittlungsverfahren geführt, und zwar das Verfahren V1 sowie das Verfahren V2. Am 14.1.2019 legitimierte sich der Rechtsanwalt gegenüber der Staatsanwaltschaft als Verteidiger zu beiden Verfahren und beantragte jeweils Akteneinsicht, die auch gewährt wurde. Am 1.2.2019 erfolgte die Verbindung des Verfahrens V1 zu dem führenden Verfahren V2 durch die Staatsanwaltschaft. Am 29.3.2019 erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage.
Auf den Antrag des Verteidigers vom 11.4.2019 wird dieser mit Beschluss vom 15.4.2019 zum Pflichtverteidiger des Angeklagten bestellt.
Der Verteidiger beantragt in seinem Festsetzungsantrag später u.a. die Festsetzung von zwei Grundgebühren nach Nr. 4100 VV RVG sowie von zwei Verfahrensgebühren nach Nr. 4104 VV RVG (nach OLG Celle RVGreport 2020, 93 = StraFo 2019, 526 = JurBüro 2019, 577 = AGS 2019, 554).
In diesen Fällen war bislang streitig, ob nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG hätte erstreckt werden müssen (so unzutreffend OLG Braunschweig NStZ-RR 2014, 232 = AGS 2014, 402; OLG Hamburg JurBüro 2018, 17 = RVGreport 2018, 50 = StraFo 2018, 41; OLG Celle StraFo 2019, 526 = JurBüro 2019, 577 = AGS 2019, 554 = RVGreport 2020, 93; OLG Koblenz StraFo 2012, 290 = AGS 2012, 390 = StRR 2012, 319 = JurBüro 2012, 522 = RVGreport 2013, 227; OLG Oldenburg RVGreport 2011, 220; OLG Zweibrücken NStZ-RR 2018 64 = RVGreport 2018, 14 = JurBüro 2018, 79; LG Dessau-Roßlau JurBüro 2015, 643 = AGS 2015, 513; LG Kaiserslautern, Beschl. v. 8.1.2019 – 5 Qs 120/18; ähnlich OLG Celle, Beschl. v. 2.1.2007 – 1 Ws 575/06; OLG Rostock RVGreport 2009, 304 = StRR 2009, 279) oder ob es sich um einen Fall des § 48 Abs. 6 S. 1 RVG handelt und eine Erstreckung nicht erforderlich war (so zutreffend KG JurBüro 2009, 531 = RVGreport 2010, 64 = NStZ-RR 2009, 360 [LS]; OLG Bremen RVGreport 2013, 14 = StRR 2012, 436; OLG Hamm RVGreport 2005, 273 = AGS 2005, 437 = JurBüro 2005, 532; StraFo 2017, 391 = AGS 2017, 457 = RVGreport 2019, 376; OLG Jena JurBüro 2009, 138 [LS] = Rpfleger 2009, 171; LG Aurich, RVGreport 2011, 221 = StRR 2011, 244; LG Bonn, Beschl. v. 30.8.2006 – 37 Qs 22/06; LG Dortmund StraFo 2006, 258). Diskutiert wurde also darum, ob sich die Frage der Erstreckung nur stellt, wenn zu einem Verfahren, in dem der Verteidiger bereits beigeordnet ist, weitere Verfahren, in denen bislang keine Beiordnung erfolgte, hinzuverbunden werden, es für die Anwendung der Vorschrift also auf die zeitliche Abfolge von Verbindung und Bestellung/Beiordnung ankommt, der Verteidiger somit grds. nicht immer einen Erstreckungsantrag stellen muss (KG JurBüro 2009, 531 = RVGreport 2010, 64 = NStZ-RR 2009, 360 [LS]; OLG Bremen RVGreport 2013, 14 = StRR 2012, 436; OLG Hamm RVGreport 2005, 273 = AGS 2005, 437 = JurBüro 2005, 532).
Diesen Streit hat das KostRÄG 2021 vom 21.12.2020 durch einen Einschub in § 48 Abs. 6 S. 3 RVG gelöst. Dort heißt es nämlich jetzt:
Zitat
"Werden Verfahren verbunden und ist der Rechtsanwalt nicht in allen Verfahren bestellt oder beigeordnet, kann das Gericht die Wirkung des Satzes 1 auch auf diejenigen Verfahren erstrecken, in denen vor der Verbindung keine Beiordnung oder Bestellung erfolgt war."
Das bedeutet: Es ist jetzt gesetzlich klargestellt, dass dann, wenn Verfahren zunächst verbunden werden und erst danach die anwaltliche Bestellung oder Beiordnung in dem nunmehr verbundenen Verfahren erfolgt, § 48 Abs. 6 S. 1 RVG unmittelbar gilt. Der Gesetzgeber geht davon aus (BT-Drucks 19/23484, S. 78), dass keine Gründe ersichtlich sind, warum das Gericht in den Fällen ausdrücklich nach § 48 Abs. 6 S. 3 RVG die Erstreckungswirkung anordnen sollte. Damit ist der Anwendungsbereich des § 48 Abs. 6 S. 3 RVG auf die Fälle der nach der Beiordnung oder Bestellung erfolgten Verfahrensverbindungen beschränkt. Es ist zudem damit indirekt klargestellt, dass die Anordnung einer Erstreckungswirkung bei einer anwaltlichen Bestellung oder Beiordnung nach der Verbindung deshalb nicht erfo...