1. Gesetzliche Neuerungen
Der im letzten Berichtszeitraum noch offene Antrag über die Einführung einer Fachanwaltschaft für Opferrechte (Deckenbrock/Markworth, ZAP 2022, 106, 116) konnte – wie bereits im Jahr 2018 – nicht die notwendige absolute Mehrheit in der Satzungsversammlung erreichen (vgl. AnwBl 2022, 336). Damit ist es bei den bislang 24 möglichen Fachanwaltstiteln geblieben. Geändert wurde zum 1.6.2022 jedoch die Bezeichnung der Fachanwaltschaft für Insolvenzrecht zur Fachanwaltschaft für Insolvenz- und Sanierungsrecht. Wer vor der Änderung schon die Erlaubnis zur Führung der Fachanwaltsbezeichnung besaß, darf sie fortführen oder alternativ die geänderte Bezeichnung führen. Zudem sind die abgesenkten Anforderungen an die praktischen Erfahrungen für die Fachanwaltschaft für Bau- und Architektenrecht in Kraft getreten. Künftig müssen Antragsteller nur noch drei statt sechs selbstständiger Beweisverfahren nachweisen. Ein umfassender Überblick über die Entwicklungen bei den Fachanwaltschaften findet sich bei Engel, BRAK-Mitt. 2022, 304 ff.
Die Satzungsversammlung der BRAK hat am 5.12.2022 beschlossen, § 4a Abs. 1 FAO dahingehend zu ändern, dass die drei schriftlichen Leistungskontrollen (Aufsichtsarbeiten), welche für die Verleihung des Fachanwaltstitels erfolgreich abgelegt werden müssen, zwingend in Präsenzform zu erfolgen haben (vgl. dazu VG Freiburg, Urt. v. 15.2.2022 – 8 K 183/21, wonach die Online-Klausur unter audiovisueller Überwachung keine Aufsichtsarbeit i.S.v. § 4a FAO ist). Demgegenüber sind keine Änderungen an § 4 FAO geplant. Die Online-Durchführung eines Fachanwaltslehrgangs wird daher weiterhin möglich sein.
2. Anforderungen an die praktische Erfahrung
Der Erwerb einer Fachanwaltsbezeichnung setzt nach § 2 Abs. 1 FAO einen Nachweis über den Erwerb besonderer theoretischer Kenntnisse (§ 4 FAO) und besonderer praktischer Erfahrungen (§ 5 FAO) voraus. Um diese Erfahrungen erwerben zu können, muss der Antragsteller nach § 5 Abs. 1 S. 1 FAO innerhalb der letzten drei Jahre vor der Antragstellung je nach Rechtsgebiet eine variierende Anzahl an Fällen und gerichtlichen Verfahren als Rechtsanwalt persönlich und weisungsfrei bearbeitet haben. Die persönliche Bearbeitung setzt nach ständiger Rechtsprechung des BGH voraus, dass sich der Rechtsanwalt – namentlich durch Anfertigung von Vermerken und Schriftsätzen oder die Teilnahme an Gerichts- und anderen Verhandlungen – selbst mit der Sache inhaltlich befasst hat. Demgegenüber soll, wie der BGH nunmehr entschieden hat, eine bloß untergeordnete, unterstützende Zuarbeit nicht ausreichen. Davon sei auszugehen, wenn ein Antragsteller nur eng umgrenzte Teilaspekte eines Falls bearbeitet, keinen eigenen Schriftsatz angefertigt und auch nicht an einer Gerichtsverhandlung teilgenommen hat (BGH, Beschl. v. 19.4.2022 – AnwZ [Brfg] 1/22, ZAP EN-Nr. 026/2023 [Ls.] m. Anm. Uekermann, AnwBl Online 2022, 513). In diesem Fall hatte eine Anwältin bei der für sie zuständigen Kammer einen Antrag auf Verleihung der Bezeichnung „Fachanwältin für Vergaberecht” gestellt, der jedoch mit der Begründung abgelehnt wurde, dass es in einzelnen ihrer Handakten zu gerichtlichen Verfahren keine nennenswerten Anzeichen für eine über ein Wirken im Hintergrund hinausgehende Fallbearbeitung gebe. Auch die anwaltlichen Bestätigungen der die Schriftsätze unterzeichnenden Rechtsanwälte würden die Nachweislücken nicht schließen. Bereits der AGH Rheinland-Pfalz hatte die Kammer aber dazu verpflichtet, den streitigen Fachanwaltstitel dennoch zu verleihen (AGH Rheinland-Pfalz, Urt. v. 16.11.2021 – 2 AGH 5/20). Diese Entscheidung wurde durch den BGH bestätigt. Im Einzelfall sei zwar eine Abgrenzung zwischen einer persönlichen Fallbearbeitung und einem bloßen Wirken im Hintergrund nicht immer möglich, insb. wenn der antragstellende Rechtsanwalt die zum Nachweis eingereichte Schriftsätze nicht selbst unterzeichnet hat und auch kein entsprechendes Diktatzeichen vorhanden sind. Zu berücksichtigen seien i.R.d. Nachweises der persönlichen Bearbeitung in der Form des § 6 FAO aber auch anwaltliche Versicherungen von Kollegen, von denen der Antragsteller Fälle zur eigenständigen persönlichen Bearbeitung erhalten hat. Sofern solche Versicherungen vorliegen, könne der Nachweis einer persönlichen Bearbeitung nicht pauschal mit der Begründung verneint werden, dass Schriftsätze fast ausnahmslos von den mandatierten Rechtsanwälten unter deren Briefkopf unterzeichnet wurden, selbst wenn sich überwiegend keine eindeutig auf die Urheberschaft des Antragstellers hinweisenden Diktatzeichen finden lassen. Der BGH stellte in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich klar, dass es für die persönliche Fallbearbeitung i.S.v. § 5 Abs. 1 S. 1 FAO nicht darauf ankomme, dass der Rechtsanwalt in jedem der von ihm gelisteten Fälle nach außen verantwortlich aufgetreten ist. Entscheidend sei vielmehr, ob er sich mit einer Sache inhaltlich befasst hat. Dies bringt für Antragsteller, die zwar der Kammer mangels Unterzeichnung von Schriftsätzen ihre Urheberschaft im Hinblick auf einen durch sie intensiv be...