Die bedingte Haftentlassung setzt weiter voraus, dass die Haftentlassung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann. Dabei ist eine Abwägung vorzunehmen zwischen den zu erwartenden Wirkungen des erlittenen Strafvollzugs für das künftige Leben des Verurteilten in Freiheit einerseits und den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit, die stets im Auge behalten werden müssen, andererseits (BGH NStZ-RR 2003, 200; OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2020 – 3 Ws 67/20).
Diese Abwägung muss zu dem Ergebnis führen, dass bei dem Verurteilten eine realistische Chance auf künftige straffreie Lebensführung besteht; sein bloßer Wille hierzu ist unzureichend (KG, Beschl. v. 6.2.2020 – 5 Ws 215/19). Zudem gilt im Verfahren über die Reststrafenaussetzung die In-dubio-Regel nicht (BGH, Beschl. v. 22.2.2022 – StB 1/22 u. Beschl. v. 15.12.2020 – StB 45/20 m.w.N.), verbleibende Zweifel an der Verantwortbarkeit der Reststrafenaussetzung zur Bewährung gehen daher zulasten des Verurteilten.
Hinweis:
Allerdings darf auch keine absolute Gewissheit künftiger Straffreiheit verlangt werden, sondern es genügt die naheliegende Aussicht auf ein positives Ergebnis (OLG Bamberg, Beschl. v. 16.3.2016 – 1 Ws 167/16; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 27.9.2013 – 3 Ws 277/13; Fischer, § 57, Rn 14).
a) Prognosemaßstab
In welchem Maße es wahrscheinlich sein muss, dass der Verurteilte nicht wieder straffällig wird, ist nicht einheitlich zu beurteilen, sondern es sind je nach der Schwere der im Falle eines Bewährungsbruchs zu befürchtenden Straftaten unterschiedliche Anforderungen zu stellen (BGH NStZ-RR 2003, 200; KG, Beschl. v. 6.2.2020 – 5 Ws 215/19 m.w.N.; OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2020 – 3 Ws 67/20; OLG Bamberg, a.a.O.)
Hiervon ausgehend muss die Aussicht auf ein künftig straffreies Verhalten etwa bei im Falle eines Rückfalls drohenden Tötungs-, Sexual-, Brandstiftungs- oder Raubdelikten größer sein als bei Straftaten geringer oder mittlerer Schwere (Schönke/Schröder/Kinzig, StGB, 30. Aufl. 2019, § 57, Rn 15). Gerade bei Tätern, die Gewaltdelikte begangen haben, ist besonders kritisch zu prüfen, ob die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung verantwortet werden kann (KG NStZ 2007, 706). Gleiches gilt für Taten aus dem Bereich der organisierten Kriminalität (OLG Hamm, Beschl. v. 26.5.2020 – 4 Ws 86/20). Der Umstand, dass der erstmaligen Strafverbüßung ein Bewährungsbruch vorausgegangen ist, rechtfertigt hingegen noch keinen generell strengeren Beurteilungsmaßstab (BGH, a.a.O.).
Hinweis:
Bei der Prognoseentscheidung muss auch berücksichtigt werden, inwieweit einem noch bestehenden Rückfallrisiko durch Auflagen und Weisungen entgegengewirkt werden kann (SSW-StGB/Claus, 5. Aufl. 2021, § 57 StGB, Rn 14).
Der Verantwortbarkeit der Haftentlassung kann es auch entgegenstehen, wenn dem Verurteilten neue Straftaten in anderer Sache vorgeworfen werden. Derartige Taten sind auch dann prognostisch verwertbar, wenn sie noch nicht rechtskräftig abgeurteilt sind, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen wurden (OLG Bamberg, Beschl. v. 16.3.2016 – 1 Ws 107/16; KG, Beschl. v. 9.12.2020 – 5 Ws 188/20). Dies verstößt nicht gegen die Unschuldsvermutung (BVerfG, Beschl. v. 21.4.1993 – 2 BvR 1706/02; OLG Brandenburg, Beschl. v. 23.6.2021 – 1 Ws 66/21; OLG Hamm, Beschl. v. 7.11.2017 – 1 Ws 423/17).
b) Erstverbüßerprivileg
Von besonderer Bedeutung bei erstmals inhaftierten Verurteilten ist das sog. Erstverbüßerprivileg: Befindet sich der Verurteilte erstmals in Haft, greift, sofern sein Verhalten im Strafvollzug nicht Anlass zu gewichtigen Beanstandungen gab, die grundsätzliche Vermutung, dass ihn die bislang verbüßte Strafe hinreichend beeindruckt hat und ihre resozialisierende Wirkung entfaltet, sodass es grds. verantwortbar erscheint, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen (KG, Beschl. v. 26.5.2021 – 5 Ws 88/21; Fischer, § 57 StGB, Rn 14).
Hinweis:
Bei der Prüfung der Frage, ob sich der Verurteilte tatsächlich erstmals in Haft befindet, sind auch im Ausland verbüßte Freiheitsstrafen in den Blick zu nehmen. Beruht eine solche auf einem rechtsstaatlichen Verfahren, und ist deren Vollstreckung mit dem Strafvollzug in Deutschland vergleichbar, kann der Verurteilte nicht mehr als Erstverbüßer angesehen werden. Dies gilt insb. für Strafen, die in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union verhängt und vollstreckt wurden (vgl. für § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB OLG Jena, Beschl. v. 12.3.2020 – 1 Ws 60/20; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.8.2019 – 1 Ws 180/19; LG Hamburg, Beschl. v. 20.2.2020 – 607 StVK 597/19).
Die Vermutung, wonach die bisherige Haftzeit ausreicht, um den Verurteilten von weiteren Straftaten abzuhalten, kann durch negative Umstände widerlegt werden (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 31.8.2021 – 1 Ws 171/21 m.w.N.; Fischer, a.a.O.). Sind derartige Umstände vorhanden, muss sich die Verteidigung in ihrem Antrag auf Reststrafenaussetzung hiermit auseinandersetzen und darlegen, weshalb die Entlassung des Verurteilten trotzdem verantwortbar erscheint. Der bloße Hinweis darauf, dass sich d...