Von besonderer Bedeutung bei erstmals inhaftierten Verurteilten ist das sog. Erstverbüßerprivileg: Befindet sich der Verurteilte erstmals in Haft, greift, sofern sein Verhalten im Strafvollzug nicht Anlass zu gewichtigen Beanstandungen gab, die grundsätzliche Vermutung, dass ihn die bislang verbüßte Strafe hinreichend beeindruckt hat und ihre resozialisierende Wirkung entfaltet, sodass es grds. verantwortbar erscheint, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen (KG, Beschl. v. 26.5.2021 – 5 Ws 88/21; Fischer, § 57 StGB, Rn 14).
Hinweis:
Bei der Prüfung der Frage, ob sich der Verurteilte tatsächlich erstmals in Haft befindet, sind auch im Ausland verbüßte Freiheitsstrafen in den Blick zu nehmen. Beruht eine solche auf einem rechtsstaatlichen Verfahren, und ist deren Vollstreckung mit dem Strafvollzug in Deutschland vergleichbar, kann der Verurteilte nicht mehr als Erstverbüßer angesehen werden. Dies gilt insb. für Strafen, die in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union verhängt und vollstreckt wurden (vgl. für § 57 Abs. 2 Nr. 1 StGB OLG Jena, Beschl. v. 12.3.2020 – 1 Ws 60/20; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 19.8.2019 – 1 Ws 180/19; LG Hamburg, Beschl. v. 20.2.2020 – 607 StVK 597/19).
Die Vermutung, wonach die bisherige Haftzeit ausreicht, um den Verurteilten von weiteren Straftaten abzuhalten, kann durch negative Umstände widerlegt werden (OLG Zweibrücken, Beschl. v. 31.8.2021 – 1 Ws 171/21 m.w.N.; Fischer, a.a.O.). Sind derartige Umstände vorhanden, muss sich die Verteidigung in ihrem Antrag auf Reststrafenaussetzung hiermit auseinandersetzen und darlegen, weshalb die Entlassung des Verurteilten trotzdem verantwortbar erscheint. Der bloße Hinweis darauf, dass sich der Mandant erstmals in Strafhaft befindet, verspricht in solchen Fällen regelmäßig keinen Erfolg.
Das Erstverbüßerprivileg erfährt Einschränkungen, wenn die Umstände der Tatbegehung sowie das Umfeld des Verurteilten auf dessen nachhaltige Verstrickung in ein kriminogenes Milieu schließen lassen, nach wie vor ernstzunehmende Rückfallrisiken vorhanden sind (z.B. wiederholte Begehung einschlägiger Straftaten, mehrfacher Bewährungsbruch) oder wenn bei einem Rückfall Rechtsgüter von besonderem Gewicht bedroht sind (KG, Beschl. v. 26.5.2021 – 5 Ws 88/21).
Letzteres ist insb. der Fall bei Straftaten, die auf besondere Gefahren für die Allgemeinheit hindeuten wie etwa der sexuelle Missbrauch von Kindern (OLG Zweibrücken, a.a.O.), der Drogenhandel (KG, Beschl. v. 19.5.2022 – 2 Ws 60/22; OLG Hamm, Beschl. v. 10.3.2020 – 3 Ws 67/20) oder Taten der organisierten Kriminalität im engeren Sinne (KG, Beschl. v. 6.2.2020 – 5 Ws 215/19; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 18.2.2022 – 1 Ws 19/22). Auch ein nicht aufgearbeitetes Suchtproblem sowie eine impulsive und charakterschwache Persönlichkeit des Verurteilten können der Anwendung des Erstverbüßerprivilegs entgegenstehen (KG NStZ-RR 2008, 157). Gleiches gilt, wenn der Verurteilte sich von der seiner Tat zugrunde liegenden ausländerfeindlich-rassistischen Einstellung nicht glaubhaft distanziert hat (BGH, Beschl. v. 2.11.2022 – StB 43/22).
Aus einer unterbliebenen Schadenswiedergutmachung darf dagegen nicht auf eine ungünstige Prognose oder eine fehlende Unrechtseinsicht geschlossen werden (KG, Beschl. v. 26.5.2021 – 5 Ws 88/21).