Ein weiterer Gesichtspunkt, dem i.R.d. Prüfung der Verantwortbarkeit der Reststrafenaussetzung Bedeutung zukommt, ist das Verhalten des Verurteilten im Vollzug (vgl. BVerfG, Beschl. v. 4.6.2020 – 2 BvR 343/19). Auch hier kommt es in der Praxis immer wieder vor, dass seitens der Verteidigung zu wenig einzelfallbezogen vorgetragen und lediglich pauschal darauf verwiesen wird, dass das Vollzugsverhalten beanstandungsfrei gewesen sei. Dies allein genügt jedoch für die Annahme einer günstigen Prognose noch nicht:
Maßgeblich ist vielmehr eine günstige Entwicklung während des Vollzugs, die je nach Schwere der bei einem Rückfall drohenden Straftaten ggf. von besonderem Gewicht sein muss und sich nicht nur als taktische Anpassung an den Vollzugsalltag darstellt, sondern als Beleg für einen Wandlungsprozess der Persönlichkeit oder Einstellung des Verurteilten anzusehen ist (KG NStZ-RR 2008, 157). Hierfür ist zu verlangen, dass sich der Verurteilte aktiv mit seinen Taten und deren Ursachen auseinandergesetzt hat. Er muss die Taten als Fehlverhalten erkannt haben und sich in ihrer konkreten Bedeutung, ihren Ursachen und Folgen so bewusst sein, dass eine Wiederholung gleichgelagerter oder anderer Gesetzesverstöße wenig wahrscheinlich erscheint (KG, Beschl. v. 6.2.2020 – 5 Ws 215/19). Fehlt es hieran, genügt es für eine günstige Prognose nicht, dass der Vollzugsverlauf unauffällig war. Denn eine reibungslose Einordnung in den Anstaltsbetrieb lässt für sich allein noch nicht auf ein straffreies Leben in Freiheit schließen (Schönke/Schröder/Kinzig, § 57 StGB, Rn 16a), und auch der äußerlich gut Angepasste kann gefährlich bleiben (MüKOStGB/ Groß/Kett-Straub, § 57 StGB, Rn 19).
Hinweis:
Leugnet der Verurteilte die rechtskräftig abgeurteilte Tat im Vollzug noch immer, kann dies für eine unzureichende Tataufarbeitung sprechen. Es ist jedoch nicht zwingend erforderlich, dass ein Verurteilter, der seine Tat während des gesamten Strafverfahrens und im Vollzug bestritten hat, sein strafbares Verhalten nunmehr einräumt (BGH, Beschl. v. 2.11.2022 – StB 43/22); auch in solchen Fällen ist eine günstige Prognose nicht per se ausgeschlossen.
Stattdessen kann eine Tataufarbeitung im Einzelfall u.U. schon dann angenommen werden, wenn behandlungsorientierte Gespräche den Verurteilten veranlasst haben, sich unabhängig von einem Eingeständnis eigener Schuld ernsthaft mit dem Tatgeschehen auseinanderzusetzen und die eigene Verantwortung gegenüber der Allgemeinheit so weit zu stärken, dass die Gefahr eines Rückfalls nur noch gering erscheint (KG, Beschl. v. 26.5.2021 – 5 Ws 88/21). Dagegen kommt eine vorzeitige Entlassung nicht in Betracht, wenn es der Verurteilte ablehnt, sich mit der eigenen Delinquenz zu befassen und auch nicht ersichtlich ist, dass er von seiner für die Tat ursächlichen Einstellung Abstand genommen hat (BGH, Beschl. v. 22.2.2022 – StB 1/22; zur Problematik der Tatleugnung s. auch Schönke/Schröder/Kinzig, § 57 StGB, Rn 16a m.w.N).