1. Gehörverstoß: Nichtberücksichtigung eines rechtzeitig gestellten Fristverlängerungsantrags
(BVerfG, Beschl. v. 10.5.2023 – 2 BvR 370/22) • Art. 103 Abs. 1 GG ist u.a. dann verletzt, wenn die Gerichte Parteivorbringen nicht zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen, ohne dass dies – etwa wegen Verspätung des Vorbringens – prozessrechtlich gerechtfertigt ist. Ein Antrag auf Fristverlängerung muss innerhalb der noch laufenden Frist bei Gericht eingegangen sein. Für den Eingang eines Schreibens bei Gericht ist es nicht erforderlich, dass das Schreiben der richtigen Akte zugeordnet wird oder dass es der Geschäftsstelle übergeben wird, sondern allein, dass es in den Machtbereich des Gerichts gelangt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.12.2012 – 2 BvR 1294/10). Es liegt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Zivilprozess vor, wenn das AG entschieden hatte, ohne das per beA übermittelte, am letzten Tag der Frist um 17.54 Uhr bei ihm eingegangene Fristverlängerungsgesuch sowie weiteren entscheidungserheblichen Vortrag der Beschwerdeführerin zu berücksichtigen. Soweit das AG ausführte, der Fristverlängerungsantrag habe zum Zeitpunkt der Abfassung des Urteils nicht einmal der Geschäftsstelle vorgelegen, berücksichtigt es nicht, dass Verzögerungen bei der Weiterleitung des Antrags innerhalb des Gerichts nicht zulasten der Beschwerdeführerin gehen können.
Anmerkung: Auch in diesem Verfahren hat das BVerfG entschieden, dass die Beschwerdeführerin in ihrem Grundrecht auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt wurde. Die Justiz ist erst ab dem 1.1.2026 verpflichtet, elektronische Akten zu führen. Das führt dazu, dass elektronische Dokumente, die auf dem Justizserver rechtzeitig eingehen noch einen langen Weg vor sich haben, ehe sie den Richter erreichen. So auch in diesem Fall. Der Fristverlängerungsantrag gelangte am 20.12.2022 um 17.54 Uhr in den Machtbereich des Gerichts. Verzögerungen bei der Weiterleitung des Antrags innerhalb des Gerichts können nicht zulasten der Beschwerdeführerin gehen. Das AG konnte auch nicht verlangen, dass der Prozessbevollmächtigte seinen Fristverlängerungsantrag zu einem früheren Zeitpunkt hätte stellen müssen – Fristen dürfen vollständig ausgeschöpft werden. Lediglich bei der Übermittlung eines fristgebundenen Schriftsatzes per Telefax ist zu beachten, dass mit der Übermittlung so rechtzeitig begonnen wird, dass i.d.R. mit einem rechtzeitigen Abschluss des Sendevorgangs gerechnet werden kann.
Praxistipp:
Achten Sie in der Praxis darauf, dass die Gerichte diese Grundsätze in den von Ihnen geführten Verfahren beherzigen. Immer wieder gehen Richter davon aus, dass Schriftsätze oder Rechtsmittel zu spät eingegangen seien, weil die Vorlage an den Richter aufgrund der Justizorganisation deutlich verzögert erfolgt. Maßgeblich für die Wahrung der Frist ist der Eingang des Dokuments auf dem Justizserver (vgl. export.html), nicht der Ausdruck, der von der Geschäftsstelle an den Richter weitergeleitet wird.
2. Keine Berücksichtigung von Schriftsätzen mit überlangen Dateinamen
(BVerfG, Beschl. v. 16.2.2023 – 1 BvR 1881/21) • Art. 103 Abs. 1 GG ist verletzt, wenn ein Gericht einen ordnungsgemäß eingereichten Schriftsatz unberücksichtigt lässt. Dabei kommt es nicht auf ein Verschulden des Gerichts hinsichtlich der unterbliebenen Kenntnisnahme des Vorbringens an; die Gründe für den Gehörsverstoß sind nicht entscheidungserheblich (vgl. BVerfG, Beschl. v. 18.7.2019 – 2 BvR 1082/18 Rn 14; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 12.12.2012 – 2 BvR 1294/10 Rn 14). Wenn ein im elektronischen Rechtsverkehr eingereichter Schriftsatz trotz Erfüllung der technischen Voraussetzungen dennoch vom zuständigen Gericht nicht verarbeitet werden kann, steht dies einer ordnungsgemäßen Einreichung nicht entgegen, wenn sich der Inhalt des Dokuments nachträglich einwandfrei feststellen lässt. Der Anspruch auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG besteht unabhängig von einer förmlichen Beteiligtenstellung im Ausgangsverfahren. Dieser Anspruch steht vielmehr jedem zu, demgegenüber die gerichtliche Entscheidung materiellrechtlich wirkt und der deshalb von dem Verfahren rechtlich unmittelbar betroffen wird. Dazu gehören bei einer Adoption die Kinder des Annehmenden (Hinweis auf § 1769 BGB; vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.10.2008 – 1 BvR 291/06 Rn 10f). Es liegt eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG vor, da das AG einen im Wege des elektronischen Rechtsverkehrs übermittelten Schriftsatz nicht zur Kenntnis genommen hatte. Der Schriftsatz war wegen der Länge des Dateinamens zu einer Anlage nicht verarbeitet worden, obschon die damals geltenden Regelungen (§§ 2, 5 ERVV jeweils i.d.F. v. 24.11.2017; ERVB 2018) insofern keine Vorgaben enthielten. Hinweis: Mit Beginn der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs zum 1.1.2022 wurde die beA-Webanwendung so angepasst, dass hochgeladene Dateien daraufhin geprüft werden, ob sie den Anforderungen der ERVV und ERVB entsprechen. Sofern das nicht der Fall ist, wird ein Warnhinweis ausgegeben und die Nachricht kann nicht versandt werden.
Anmerkung: Diese Entscheidung bezieht sich auf einen Fall vor Beginn der aktiven Nutzungspflicht. Dat...