1. Neuregelung
Änderungen im Überblick:
- Normen: §§ 176 GVG; 68 StPO
Regelungsgehalt:
- Verbot der Gesichtsverhüllung in § 176 GVG
- Gegebenenfalls Erweiterung des Zeugenschutzes in § 68 StPO
- Verteidigerstrategie: Prüfung der Einhaltung des Verbots; ggf. Beanstandung einer "verhüllt" geführten Vernehmung
In § 176 GVG ist ein Verbot der Gesichtsverhüllung aufgenommen worden; dieses gilt im Übrigen für alle gerichtlichen Verfahren. Das hatte eine Folgeänderung in § 68 StPO betreffend die Vernehmung von Personen/Zeugenschutz zur Folge.
2. Verbot der Gesichtsverhüllung (§ 176 GVG)
a) Allgemeines
Verhüllten an der Verhandlung beteiligte Personen ihr Gesicht während der Hauptverhandlung entweder ganz oder teilweise, konnte dies der Vorsitzende im Rahmen der ihm eingeräumten sitzungspolizeilichen Befugnisse bislang über § 176 GVG im Wege einer richterlichen Anordnung, die Gesichtsverhüllung zu entfernen, verbieten (zur Sitzungspolizei s. Burhoff, HV, Rn 2713 ff.). Die damit zusammenhängenden Fragen sind jetzt in § 176 Abs. 2 GVG ausdrücklich geregelt worden. Der frühere § 176 GVG ist zu § 176 Abs. 1 GVG geworden. § 176 Abs. 2 S. 1 GVG regelt den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der Vorschrift, § 176 Abs. 2 S. 2 GVG regelt Ausnahmen.
Hinweis:
Die Regelung gilt nicht nur im Straf- und Bußgeldverfahren, sondern über § 55 VwGO bzw. § 52 Abs. 1 FGO bzw. § 61 Abs. 1 SGB auch in Verfahren vor den Gerichten der öffentlich-rechtlichen Gerichtsbarkeiten sowie gem. § 9 Abs. 2 ArbGG vor den Arbeitsgerichten entsprechend.
b) Verbotsinhalt
Die Verbotsregelung erstreckt sich auf sämtliche Formen der Gesichtsverhüllung. Es kommt nicht darauf an, ob diese religiös motiviert sind oder nicht. Gesichtsverhüllung meint die Verwendung von Textilien und anderen Gegenständen, die dazu dienen, das Gesicht oder Teile desselben zu verdecken (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 43). Im Einzelnen:
- Erfasst sind etwa Verhüllungen des Gesichts durch eine Maske, eine Burka, eine Sonnenbrille, eine Sturmhaube, einen Motorradhelm oder auch einen Verband, den eine Person zur Behandlung einer physischen Verletzung im Gesicht trägt.
- Nicht erfasst sind dagegen die natürliche Gesichtsbehaarung, kleinere Pflaster, Brillen mit durchsichtigem Glas oder Bedeckungen nur des Haares oder nur des Halsbereichs, die den Bereich des Gesichts, also die Fläche zwischen Stirn und Kinn, freilassen.
Nach § 176 Abs. 2 S. 2 GVG ist der Vorsitzende berechtigt, Ausnahmen von dem Verhüllungsverbot zu gestatten, wenn dessen Schutzzweck nicht berührt wird. Eine gesetzlich geregelte Ausnahme ist die (Neu-)Regelung in § 68 Abs. 3 S. 3 StPO.
Mit der ausdrücklichen Einführung des Gesichtsverhüllungsverbots ist es dem Gesetzgeber insb. um die Aufrechterhaltung der Ordnung der gerichtlichen Verhandlung und damit auch um die Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit sowie ihrer Kontrolle gegangen. Näher präzisiert ist die Wahrung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege in § 176 Abs. 2 S. 2 GVG durch die ausdrücklich genannten Zwecke der Identitätsfeststellung und der Beweiswürdigung. Diese beiden Zwecke sind verbotsbegründend, weil die Identität der bei der Verhandlung beteiligten Personen in einem (Straf-/Bußgeld-)Verfahren verlässlich überprüft werden können muss. Das Verbot greift jedoch in Grundrechte der Verfahrensbeteiligten ein, und zwar in das Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG und – sofern das Gesicht aus religiösen Gründen verhüllt wird – in das Grundrecht auf Freiheit der Religionsausübung nach Art. 4 GG. Zudem kann das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG betroffen sein, wenn die Gesichtsverhüllung in Form eines Verbands erfolgt, der aus medizinischen Gründen angelegt werden musste (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 44).
Insoweit ist folgende Abwägung zu treffen (vgl. dazu BT-Drucks 19/14747, S. 44):
- Der Eingriff/das Verbot ist grds. vor dem Hintergrund, dass das Verbot der Wahrung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege dient, gerechtfertigt.
- Personen, die ihr Gesicht verhüllen wollen und sich dabei insb. auf religiöse oder medizinische Gründe berufen, muss dies aber gestattet werden, wenn und soweit der Blick in das unverhüllte Gesicht weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung erforderlich ist. Sofern und soweit die grundrechtlich geschützten Interessen an einer Verhüllung überwiegen, muss der Vorsitzende eine Ausnahme vom generellen Verbot gestatten. Das dürfte u.a. gelten, wenn Verfahrensbeteiligte an einer Gerichtsverhandlung nur noch zuhörend teilnehmen wollen, wie etwa Nebenkläger, die an der Verhandlung nur (noch) als Zuhörer teilnehmen (§ 397 Abs. 1 S. 1 StPO), oder dann, wenn eine Verhüllung des Gesichts weder zur Identitätsfeststellung noch zur Beweiswürdigung notwendig ist oder nicht mehr notwendig ist, sei es, dass es auf die Identität der Person/des Zeugen nicht ankommt oder dass z.B. ein anderer Zeuge oder ein Sachverständiger vernommen wird.
c) Geltungsbereich (§ 176 Abs. 2 S. 1 GVG)
§ 176 Abs. 2 S. 1 GVG regelt den persönlichen und sachlichen Anwendungsbereich der neuen Vorschrift. Der persönliche Anwendungsbereich gilt für...