I. Einführung
Mit dem am 13.12.2019 in Kraft getretenen Gesetz zur Neuregelung des Rechts der notwendigen Verteidigung (BGBl I 2019, 2128) wurden die Bestimmungen über die Pflichtverteidigung weitreichend geändert bzw. neu gefasst (s. hierzu Hillenbrand ZAP F. 22, 983). Die nachfolgenden Ausführungen geben einen ersten Überblick über die bislang zu den Neuregelungen ergangene Rechtsprechung.
II. Beiordnungsgründe
1. Verfahren vor dem Schöffengericht
Seit der Reform liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung bereits dann vor, wenn zu erwarten ist, dass die Hauptverhandlung im ersten Rechtszug vor dem Oberlandesgericht, dem Landgericht oder dem an dieser Stelle neu aufgenommenen Schöffengericht stattfindet, § 140 Abs. 1 Nr. 1 StPO. Die Beiordnungsvoraussetzungen liegen folglich bereits im Ermittlungsverfahren vor, sobald absehbar ist, dass eines der vorgenannten Gerichte für das Hauptverfahren zuständig sein wird, und nicht erst nach Erhebung der Anklage. Dies gilt auch für Verfahren vor dem Jugendschöffengericht (LG Saarbrücken, Beschl. v. 11.2.2020 – 3 Qs 11/20).
2. Verbrechensvorwurf
§ 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlangt die Beiordnung eines Pflichtverteidigers, wenn dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Dies war im alten Recht nicht anders, nunmehr ist jedoch bei der Auslegung dieser Vorschrift insb. der Wille des Reformgesetzgebers, einen Perspektivenwechsel weg von der Hauptverhandlung hin zum Ermittlungsverfahren zu vollziehen und den Beiordnungszeitpunkt entsprechend vorzuverlagern, zu berücksichtigen. Dem Beschuldigten wird deshalb bereits dann i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 2 StPO ein Verbrechen zur Last gelegt, wenn wegen eines solchen lediglich ermittelt wird. Ein Beiordnungsantrag darf folglich nicht mit der Begründung abgelehnt werden, es sei noch keine Anklageschrift zugestellt worden (LG Magdeburg, Beschl. v. 4.6.2020 – 25 Qs 855 Js 81720/19 [47/20, 48/20]).
Hinweis:
Allerdings kann je nach Verlauf der weiteren Ermittlungen, etwa wenn sich herausstellt, dass anstelle eines Verbrechens allenfalls ein Vergehen in Betracht kommt und kein anderer Beiordnungsgrund vorliegt, eine Aufhebung der Bestellung nach § 143 Abs. 2 S. 1 StPO in Betracht kommen. Insoweit vermag die Einschätzung des LG Flensburg (Beschl. v. 30.7.2020 – II Qs 28/20), wonach die Verteidigung notwendig bleiben dürfte, wenn die Tat nach ursprünglicher Einordnung als Verbrechen im Laufe des weiteren’Verfahrens anders beurteilt wird, jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht zu überzeugen.
3. Schwierigkeit der Rechtslage
Eine zwar nicht auf die Gesetzesreform zurückzuführende, aufgrund ihrer Bedeutung für die Praxis an dieser Stelle aber gleichwohl zu erwähnende Entwicklung in der Rechtsprechung betrifft die Verteidigerbestellung in Verfahren wegen Besitzes kinderpornographischer Schriften. Nach Auffassung des LG Halle (Beschl. v. 12.8.2020 – 10a Qs 77/20) hat in solchen Fällen auch dann eine Beiordnung zu erfolgen, wenn weder die Straferwartung noch die Schwierigkeit der Rechtslage eine solche gebieten. Die Notwendigkeit der Verteidigung ergebe sich nämlich aus der Schwierigkeit der Sachlage nach § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO, dem Beschuldigten sei ein Verteidiger zur Wahrnehmung des Akteneinsichtsrechts beizuordnen. Einer Akteneinsicht durch den Beschuldigten selbst, wie sie seit dem 1.1.2018 grds. möglich ist, stünde in derartigen Verfahren § 147 Abs. 4 S. 1 StPO entgegen; es lägen überwiegende schutzwürdige Interessen vor. Eine Einsicht des Beschuldigten in Beweismittelbände zu kinderpornografischen Abbildungen betreffe den Intimbereich der abgebildeten Personen, welcher vor der Hauptverhandlung gewahrt werden solle. Ohne eine Einsichtnahme in die Bilder als wesentliches Beweismittel sei eine ausreichende Verteidigung für den Beschuldigten aber nicht möglich. Insoweit habe der Verteidiger die Abbildungen zu sichten und den Beschuldigten über seine Erkenntnisse zu unterrichten (a.A. LG Ansbach, Beschl. v. 12.10.2020 – 3 Qs 49/20 = StRR 12/2020, 27 m. Anm. Burhoff, das freilich die Belange der Tatopfer nicht hinreichend berücksichtigt).
III. Beiordnungsverfahren
1. Antragserfordernis/Eröffnung des Tatvorwurfs
Eine wesentliche Neuerung brachte die Neufassung des § 141 StPO mit sich: Dort ist nunmehr grds. ein ausdrücklicher Antrag des Beschuldigten auf Bestellung eines Pflichtverteidigers nach Eröffnung des Tatvorwurfs und Belehrung vorgeschrieben; Beiordnungen von Amts wegen erfolgen nur noch in den Fällen des § 141 Abs. 2 StPO.
a) Zeitpunkt der Antragstellung
Wann er den Beiordnungsantrag stellt, ist dem Beschuldigten überlassen. Er hat zwar die Möglichkeit, den Antrag unverzüglich nach seiner Belehrung zu stellen, verpflichtet ist er hierzu aber nicht. Stellt er den Antrag erst später, tritt keine Präklusionswirkung ein (vgl. LG Frankenthal, Beschl. v. 16.6.2020 – 7’Qs 114/20 = StRR 9/2020 m. Anm. Burhoff).
b) Kenntnis vom Tatvorwurf
§ 141 Abs. 1 StPO setzt voraus, dass dem Beschuldigten bereits der Tatvorwurf eröffnet ist, zuvor’gestellte Beiordnungsanträge sind unzulässig.
Wann der Tatvorwurf i.S.d. Vorschrift eröffnet ist, wird bislang nicht einheitlich beurteilt. Unstreitig ist lediglich, dass die förmliche Mitteilung gem. §§ 136 Abs. 1, 163a Abs. 1 StPO ausreichend ist, wohingegen nicht a...