Weniger "schön" als der Beschluss des BGH v. 4.11.2014 (1 StR 586/12, StraFo 2015, 27 – s.o. II. 1a) ist der BGH-Beschluss v. 20.10.2014 (5 StR 176/14, StRR 2015, 23; zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen). Hier macht der BGH hinsichtlich der Frage, ob nicht ggf. schon vor einer verantwortlichen Vernehmung des Beschuldigten nach dessen Ergreifung – zumindest bei Kapitaldelikten – im Ermittlungsverfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erforderlich ist, einen weiteren Schritt zurück. Zu der Problematik hatte es die hoffungsvoll stimmende Entscheidung BGHSt 47, 172 gegeben, in der eine Pflicht zur Stellung eines Beiordnungsantrags dann bejaht wurde, wenn der Tatverdacht von der Staatsanwaltschaft als "dringend" erachtet wird und der Beschuldigte zugleich aufgrund der Lage des Verfahrens tatsächlich des Beistandes eines Verteidigers bedarf, was vor allem dann Fall sein dürfte, wenn die Staatsanwaltschaft den Antrag auf Erlass eines Haftbefehls wegen eines Verbrechens stellt. Diese Auffassung hatte der BGH dann aber bereits in BGHSt 47, 233 relativiert (zur Entwicklung der Rechtsprechung Burhoff, EV, Rn. 2340 f.).
Jetzt hat der BGH erneut einen Schritt zurück gemacht und zur Begründung § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO herangezogen. Er führt aus, dass der BGH bereits mehrfach entschieden habe, dass nach geltendem Recht (§ 141 Abs. 3 S. 2 StPO) auch mit Bedacht auf Art. 6 Abs. 3 Buchst. c MRK keine Pflicht bestehe, dem Beschuldigten bereits frühzeitig im Ermittlungsverfahren, etwa beginnend mit dem dringenden Verdacht eines (auch schweren) Verbrechens, einen Verteidiger zu bestellen (BGHSt 47, 233, 236 f.; NJW 2006, 1008, 1010; NStZ-RR 2006, 181, 182). Von dieser Rechtsprechung abzurücken, bestehe kein Anlass. Dies gelte umso mehr, als der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Änderung des Untersuchungshaftrechts vom 29.7.2009 (BGBl. I S. 2274) den Zeitpunkt der rechtlich zwingenden Bestellung eines Pflichtverteidigers in § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO in Kenntnis der bestehenden Rechtsprechung bewusst auf den Beginn der Vollstreckung der Untersuchungshaft festgelegt habe. Nach § 141 Abs. 3 S. 4 StPO habe die Verteidigerbestellung "unverzüglich" zu erfolgen, sofern der Haftbefehl nach seiner Verkündung nicht außer Vollzug gesetzt werde (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 16/13097, S. 19). Erst mit der Aufrechterhaltung der Haft nach § 115 Abs. 4 S. 1 StPO liege eine Vollstreckung der Untersuchungshaft i.S.d. § 140 Abs. 1 Nr. 4 StPO vor. Forderungen, bereits frühere Ereignisse, wofür z.B. der Erlass eines Haftbefehls oder die Ergreifung des Beschuldigten in Betracht gekommen wären, zum Anlass für eine Beiordnung zu nehmen, hätten sich im Gesetzgebungsverfahren nicht durchgesetzt (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht, a.a.O., S. 16 f.).
Hinweis:
Damit dürfte der Auffassung in der Literatur eine Absage erteilt sein, die über den Wortlaut des § 141 Abs. 3 S. 4 StPO – (" ... nach Beginn ...") – hinaus schon zu einem früheren Zeitpunkt die Bestellung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 1 Nr. 4 fordert (vgl. Deckers StraFo 2009, 441, 443; D. Herrmann StraFo 2011, 133; 136 f.; Ders., StV 2011, 652, 653; vgl. auch noch Heydenreich StraFo 2011, 263, 267: a.A. KK-Laufhütte/Willnow, StPO, 7. Aufl. 2013, § 141 Rn. 11; Radke/Hohmann/Reinhart, StPO, § 141 Rn. 4; krit. Wohlers StV 2010, 151, 153 m.w.N. in Fn. 31 zu den insoweit auch krit. Stimmen in der Anhörung des Gesetzgebungsverfahrens).
Von Bedeutung ist der Beschluss des BGH v. 20.10.2014 (5 StR 176/14, StRR 2015, 23) noch aus einem weiteren Grund. Der BGH weist in seiner Entscheidung ausdrücklich darauf hin, dass im entschiedenen Fall die Polizeibeamten gegen § 115 Abs. 1 StPO verstoßen hatten, indem sie den Angeklagten nach seiner Ergreifung nicht unverzüglich dem zuständigen Gericht vorgeführt, die Vorführung vielmehr zum Zweck der Durchführung polizeilicher Beschuldigtenvernehmungen aufgeschoben hatten (vgl. NJW 1990, 1188). Dieser Verfahrensfehler verenge jedoch – so der BGH – nicht den der Staatsanwaltschaft in § 141 Abs. 3 S. 2 StPO übertragenen Beurteilungsspielraum betreffend das Hinwirken auf sofortige Verteidigerbestellung. Vielmehr wäre es – sofern eingebunden – die Pflicht der Staatsanwaltschaft gewesen, nachhaltig für die Wahrung des Unverzüglichkeitsgebots nach § 115 Abs. 1 StPO Sorge zu tragen. Infolge der in erster Linie auf Gewährleistung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG zielenden Schutzrichtung des § 115 Abs. 1 StPO (vgl. BVerfG NStZ 1994, 551, 552; LR/Hilger, StPO, 26. Aufl., § 115 Rn. 1), sei das Interesse an frühzeitiger Verteidigerbestellung (vgl. auch KK/Graf, StPO, 7. Aufl., § 115 Rn. 1a) gleichsam als Reflex mit umfasst, könne die Verletzung dieser Vorschrift den Zeitpunkt rechtlich zwingender Verteidigerbestellung aber nicht vorverlagern.
Hinweis:
Das kann m.E. auch anders gesehen werden, wenn man es nicht sogar anders sehen muss. Allerdings fragt man sich grundsätzlich, warum der BGH zu dieser Frage überhaupt...