1. Nemo-tenetur-Grundsatz
Bei Verletzung des "nemo-tenetur-Grundsatzes" reagieren die Obergerichte empfindlich. Das merkt man häufig an der Wortwahl der Revisionsgerichts, wo Begriffe/Formulierungen wie "rechtlich unzulässig" und/oder "eklatanter Verstoß" auftauchen. So auch im Beschluss des OLG Brandenburg v. 27.8.2014 ([1] 53 Ss 90/14 [46/14], NStZ-RR 2015, 53). Da hatte die Jugendrichterin im AG-Urteil ausgeführt: "Auch die Tatsache, dass der Angeklagte keinerlei entlastende Angaben dazu gemacht hat, wie er sonst in den Besitz des Handy gekommen sein könnte, spricht für seine Täterschaft." Zur Strafzumessung hieß es in den Urteilsgründen: "Die fehlende Äußerung zur Person lässt jedoch eher negative Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten zu, denn offensichtlich ist er nicht bereit, sich mit dem Unrecht seiner Tat auseinander zu setzen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen." Das OLG (a.a.O.) hat hierin u.a. eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (§ 261 StPO) gesehen. Soweit die Jugendrichterin den Schuldspruch u.a. damit begründet habe, dass das Schweigen des Angeklagten in der Hauptverhandlung ("keinerlei entlastende Angaben dazu gemacht") für dessen Täterschaft spreche, habe sie gegen ein Beweisverwertungsverbot von Verfassungsrang verstoßen. Es gehöre zu den übergeordneten Rechtsgrundsätzen, dass ein Beschuldigter bzw. Angeklagter grundsätzlich nicht verpflichtet sei, aktiv zur Sachaufklärung beizutragen ("nemo tenetur se ipsum accusare" bzw. "nemo tenetur se ipsum prodere"; vgl. zuletzt: BVerfG NJW 2013, 1058, 1061; BGH NStZ 2009, 705). Ausdruck des nemo-tenetur-Grundsatzes seien die in §§ 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 4 S. 2 und § 243 Abs. 5 S. 1 StPO normierten Belehrungspflichten. Die vom AG gezogene Folgerung von dem Schweigen ("keinerlei entlastenden Angaben") auf die Täterschaft des Angeklagten sei rechtlich unzulässig. Die Jugendrichterin habe bei dem zur Sache umfassend schweigenden Angeklagten den Umstand, dass er von seinem prozessualen Recht zum Schweigen Gebrauch gemacht hat, nicht als belastendes Indiz verwerten dürfen. Die freie richterliche Beweiswürdigung nach § 261 StPO finde ihre Grenze an dem Recht eines jeden Menschen, nicht gegen seinen Willen zu seiner Überführung beitragen zu müssen. Dieses Abwehrrecht eines Beschuldigten gegen staatliche Eingriffe werde durch Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet (BVerfGE 56, 37, 49; BGHSt 45, 363 ff.; BGHSt 49, 56, 59). Auch soweit das AG bei der Strafzumessung aus Schweigen des Angeklagten zu seinen persönlichen Verhältnissen ("fehlende Äußerung zur Person") negative Rückschlüsse auf die Persönlichkeit des Angeklagten gezogen und bei der Strafzumessung zu seinen Lasten berücksichtigt habe ("offensichtlich ist er nicht bereit, sich mit dem Unrecht seiner Tat auseinander zu setzen und die Verantwortung hierfür zu übernehmen"), sei – so das OLG – ein eklatanter Verstoß gegen den nemo-tenetur-Grundsatz gegeben. Die mangelnde Mitwirkung des Angeklagten an der Sachaufklärung, auch zu seiner Person, dürfe ihm nicht strafverschärfend angelastet werden (BGH StraFo 2013, 340).
Hinweis:
Das umfassende prozessuale Recht des Angeklagten zum Schweigen beinhaltet sowohl das Schweigen zur Tat als solche als auch zu den persönlichen Verhältnissen. Aus dem Gebrauch des Schweigerechts dürfen also weder Rückschlüsse hinsichtlich der Tat noch auf die Strafe gezogen werden (zu allem auch Burhoff, EV, Rn. 1239 ff.).
2. Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung (§ 247 StPO)
Eine "sichere Bank" für die Revision des Angeklagten ist das Verfahren der Entfernung des Angeklagten aus der Hauptverhandlung (§ 247 StPO). Das beweist die doch recht große Anzahl von erfolgreichen Revisionen beim BGH, die die damit zusammenhängenden Fragen zum Gegenstand haben. Die "Fehleranfälligkeit" des Verfahrens bei den Tatgerichten überrascht insofern, weil eben der BGH immer wieder zu den Fragen Stellung genommen hat (vgl. u.a. zuletzt z.B. BGH NStZ 2014, 532 = StRR 2014, 341). Auch der große Senat des BGH für Strafsachen hat sich ja schon mit der Vorschrift beschäftigen müssen (s. BGHSt 55, 87). Es ist erstaunlich, dass das, was der BGH zu der Vorschrift/dem Verfahren "anzumerken" hat, bei den Instanzgerichten offenbar nicht ankommt. Das beweist dann auch mal wieder der BGH (Beschl. v. 23.9.2014 – 4 StR 302/14, StRR 2015, 25), mit einer – schon fast üblichen – Konstellation:
In einem Verfahren wegen des Vorwurfs des schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes wurde der Angeklagte in der Hauptverhandlung für die Dauer der zeugenschaftlichen Vernehmung der Nebenklägerin durch Beschluss der Strafkammer gem. § 247 StPO aus dem Sitzungszimmer entfernt. Nach ihrer Aussage blieb die Zeugin auf Anordnung des Vorsitzenden unvereidigt und wurde entlassen. Nachdem der Angeklagte daraufhin den Sitzungssaal wieder betreten hatte, informierte ihn der Vorsitzende über den wesentlichen Inhalt der Aussage der Nebenklägerin. Der Verteidiger des Angeklagten teilte dem Gericht nach kurzer Unterbrechung und Beratung mit seinem Mandanten mit, es gebe noch drei Ergänzu...