Die Beiordnung eines Rechtsanwalts als Pflichtverteidiger im Strafvollstreckungsverfahren macht in der Praxis nach wie vor Schwierigkeiten. Diese sind vor allem darauf zurückzuführen, dass nach h.M. § 140 Abs. 2 StPO nur im Erkenntnisverfahren gilt und für das Strafvollstreckungsverfahren nur analog angewendet werden kann (vgl. wegen der Einzelheiten Burhoff, EV, Rn 2812 ff. m.w.N. aus der Rechtsprechung). Dabei werden zwar die Beiordnungsgründe des § 140 Abs. 2 StPO herangezogen, sie werden aber restriktiv ausgelegt. Das gilt besonders für den Beiordnungsgrund "Schwere der Tat". Während im Erkenntnisverfahren bei dessen Heranziehung die Länge der (zu erwartenden) Strafe eine erhebliche Rolle spielt, wird das für das Strafvollstreckungsverfahren abgelehnt (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn 2820). In dem Zusammenhang ist auf die Entscheidung des LG Paderborn (Beschl. v. 28.10.2016 – 1 Qs 125/16) hinzuweisen. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen Widerrufs von Strafaussetzung (§ 56 f. StGB). Der Verurteilte stand wegen Steuerhinterziehung in acht Fällen, Vorenthalten und Veruntreuung von Arbeitsentgelt in 20 Fällen sowie wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis mit einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten unter Bewährung. Außerdem war er wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu fünf Monaten Freiheitstrafe, die abermals zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt. Der Verurteilte wird dann wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15 EUR verurteilt. Außerdem ist in einem Ermittlungsverfahren Anklage wegen Steuerhinterziehung sowie Vorenthalten und Veruntreuung von Arbeitsentgelten erhoben worden. Darüber hinaus waren noch zwei weitere Ermittlungsverfahren gegen den Verurteilten anhängig. Die Staatsanwaltschaft beantragte, die Strafaussetzung zur Bewährung aus der Eingangsverurteilung zu widerrufen, da die Verurteilung wegen Widerstands pp. sowie auch die weitere Anklage und die zwei noch im Ermittlungsstadium befindlichen Verfahren zeigten, dass sich die der Strafaussetzung zur Bewährung zugrunde liegende Erwartung einer zukünftigen straffreien Führung des Verurteilten nicht erfüllt habe. Der Verteidiger beantragte die Beiordnung als Pflichtverteidiger. Das Amtsgericht lehnte das ab. Auf die Beschwerde hin, hat die Strafkammer den Verteidiger dann doch beigeordnet.
Das LG (a.a.O.) führt aus: Dem Verurteilten sei der Verteidiger analog § 140 Abs. 2 StPO als Pflichtverteidiger für das Widerrufsverfahren beizuordnen, da dies die Schwierigkeit der Sach- und Rechtslage und die Schwere der Tat gebieten würden. Dabei beurteile sich die Schwere der Tat vor allem nach der zu erwartenden Rechtsfolgenentscheidung und damit danach, ob eine längere Freiheitsstrafe, eine gravierende Maßregel der Besserung und Sicherung oder sonst eine erhebliche Folge der Entscheidung drohe, die nicht unmittelbar im Rechtsfolgenausspruch liege. Die Rechtsprechung habe sich dahin verfestigt, dass dies bei einer Straferwartung um ein Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe anzunehmen sei. Eine Straferwartung von mehr als einem Jahr gebe daher i.d.R. Anlass, die Mitwirkung eines Verteidigers als notwendig anzusehen. Überdies liege auch eine schwierige Sach- und Rechtslage dadurch vor, dass der Widerrufsantrag der Staatsanwaltschaft auf eine erhobene Anklage und zwei weitere laufende Ermittlungsverfahren, die näher nicht bezeichnet worden seien, abhebe. Wegen der für den Verurteilten geltenden Unschuldsvermutung können aber nur solche Taten als Grundlage für einen Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung herangezogen werden, die entweder bereits rechtskräftig abgeurteilt wurden oder für die ein glaubhaftes Geständnis vorliege, weil nur dann die schuldhafte Begehung einer neuerlichen Straftat feststeht (vgl. Fischer, StGB, 64. Aufl. 2017, § 56f Rn 4 ff.).
Hinweis:
Der Beschluss des LG ist interessant, wenn nicht sogar außergewöhnlich, weil das LG die Rechtsprechung zur Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO wegen "Schwere der Tat" im Erkenntnisverfahren (vgl. dazu Burhoff, EV, Rn 2871) ohne Abstriche auf das Strafvollstreckungsverfahren überträgt. Die überwiegende Meinung sieht hingegen die Länge der Strafe im Strafvollstreckungsverfahren nicht als bestimmendes Merkmal für die Beiordnung eines Pflichtverteidigers (vgl. Burhoff, EV, Rn 2820). Der Beschluss bietet an der Stelle also Argumentationshilfe.