a) Fluchtgefahr beim Erstverbüßer
Das KG befasst sich in seinem Beschluss vom 23.10.2018 (2 Ws 205/18) mit der Frage der Fluchtgefahr i.S.d. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO. Ergangen ist der Beschluss in einem Verfahren wegen schweren Raubes. Der Angeklagte ist deswegen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und vier Monaten verurteilt worden. Hiergegen hat er Revision eingelegt, über die noch nicht entschieden war. Die Strafkammer hatte zugleich mit dem Urteil die Haftfortdauer beschlossen (§ 268b StPO). Dagegen richtete sich die Beschwerde des Angeklagten, die beim KG keinen Erfolg hatte.
Das KG führt aus: Es bestehe der Haftgrund der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO). In Fällen, in denen bereits ein auf eine unbedingte Freiheitsstrafe lautendes Urteil ergangen sei, sei zu berücksichtigen, dass die Untersuchungshaft nicht nur die Durchführung des Strafverfahrens gewährleiste, sondern auch die Vollstreckung der in dem Verfahren verhängten Freiheitsstrafe sicherstellen solle. Zwar habe der Angeklagte gegen das Urteil Revision eingelegt. Er müsse aber damit rechnen, dass sein Rechtsmittel möglicherweise keinen Erfolg haben werde. Fluchtgefahr sei dann gegeben, wenn bei Würdigung aller Umstände des Einzelfalls eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die Annahme spricht, der Beschuldigte werde sich – zumindest für eine gewisse Zeit (vgl. Hilger, in Löwe/Rosenberg, StPO, 26. Aufl., § 112 Rn 32 m.w.N.) – dem Strafverfahren entziehen (vgl. auch noch Burhoff, EV, Rn 4151 ff. m.w.N.).
Bei dieser Prognoseentscheidung sei jede schematische Beurteilung anhand genereller Maßstäbe, insbesondere die Annahme, dass bei einer Straferwartung in bestimmter Höhe stets oder nie ein bedeutsamer Fluchtanreiz bestehe, unzulässig. Die zu erwartenden Rechtsfolgen allein könne die Fluchtgefahr grundsätzlich nicht begründen; sie seien aber jedenfalls der Ausgangspunkt für die Erwägung, ob ein aus der Straferwartung folgender Fluchtanreiz unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände zu der Annahme führt, der Angeklagte werde diesem wahrscheinlich nachgeben (vgl. Burhoff, EV, a.a.O., m.w.N.).
Die Straferwartung beurteile sich – so das KG – nach dem Erwartungshorizont des Haftrichters, in dessen Prognoseentscheidung die subjektive Erwartung des Angeklagten einzubeziehen ist (vgl. OLG Hamm StV 2001, 115). Dabei kommt es auf den tatsächlich zu erwartenden Freiheitsentzug an, so dass die Anrechnung der Untersuchungshaft gem. § 51 StGB und eine voraussichtliche Aussetzung der Vollstreckung eines Strafrests nach § 57 StGB die Straferwartung und den mit dieser verbundenen Fluchtanreiz u.U. verringern kann (vgl. BVerfG StraFo 2013, 160 m.w.N. 350; KG, Beschl. v. 27.4.2018 – 2 Ws 73/18). Obgleich der Angeklagte Erstverbüßer sei, liege eine vorzeitige Entlassung nach § 57 StGB nach gegenwärtigem Verfahrensstand eher fern. Zwar bestehe grundsätzlich die Vermutung, dass der Strafvollzug einen Erstverbüßer im Allgemeinen beeindruckt und ihn von weiteren Straftaten abhalten kann (vgl. KG NStZ-RR 1997, 27; Fischer, StGB, 66. Aufl. 2019, § 57 Rn 14). Diese Vermutung gelte jedoch nicht ausnahmslos und besage insbesondere nicht, dass in den Fällen der Erstverbüßung gleichsam automatisch die für die Reststrafenaussetzung erforderliche günstige Legalprognose bejaht werden könne. In welchem Maß es wahrscheinlich sein müsse, dass ein Täter nicht wieder straffällig wird, hänge wegen der vom Gesetzgeber in den Vordergrund gestellten Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit von dem Gewicht der bedrohten Rechtsgüter und den Eigenheiten der Persönlichkeit eines Verurteilten ab.
Das KG verweist darauf, dass die für den Erstverbüßer sprechende Vermutung Einschränkungen bei besonders sicherheitsrelevanten Delikten – wie Straftaten im Bereich der organisierten Kriminalität oder bei Betäubungsmitteldelikten – wegen der außerordentlichen Gefährdung, die derartige Taten für das Leben und die Gesundheit Dritter bedeuten, erfahre. Gleichermaßen seien bei wegen Gewalttaten Verurteilten erhöhte Anforderungen an eine günstige Sozialprognose zu stellen, denn je höher die Wertigkeit des verletzten Rechtsguts ist, desto größer muss die Wahrscheinlichkeit künftiger Straffreiheit sein. Darüber hinaus sei ein strengerer Maßstab auch dann geboten, wenn der Verurteilte durch sein strafrechtlich relevantes Vorleben habe erkennen lassen, dass bei ihm erhebliche tatursächliche Charakterschwächen vorhanden sind und er zudem durch einen Bewährungsbruch bewiesen hat, dass der von ihm bereits einmal vermittelte günstige Eindruck falsch war (vgl. u.a. KG, Beschl. v. 7.12.2017 – 2 Ws 152-153/17 m.w.N.).
Im konkreten Fall stellt das KG dann darauf ab, dass der Angeklagte wiederholt wegen Delikten aufgefallen sei, bei denen er mit Gewalt gegen andere vorgegangen ist oder die sich gegen deren körperliche Integrität richteten. Dass angesichts dieser Delikte ein strenger Prüfungsmaßstab anzulegen sei, zeige sich auch darin, dass vor einer etwaigen vorzeitigen Entlassung ein Gutachten eines Sachverständigen zur Gefährlichkeit des Beschwer...