Werden in der Hauptverhandlung Urkunden verlesen, ist sehr schnell der Unmittelbarkeitsgrundsatz des § 250 StPO tangiert. Zwei neuere Entscheidungen des BGH befassen sich mit den bei Verlesung von Urkunden in der Hauptverhandlung ggf. auftretenden Problemen/Fragen.
a) Einführung von DNA-Gutachten im Selbstleseverfahren
Im Beschluss des BGH vom 3.9.2019 (3 StR 291/19, NJW 2019, 3736 = StraFo 2020, 24 = NStZ 2020, 94) hatte der Angeklagte, der u.a. wegen zweier Wohnungseinbruchdiebstähle verurteilt worden war, Revision eingelegt und diese u.a. auf eine Verfahrensrüge gestützt. Mit ihr hatte er eine Verletzung des § 250 StPO durch die Einführung von diversen – von privaten Laboren erstellten – molekulargenetischen Spurengutachten (DNA-Gutachten) im Wege des Selbstleseverfahrens gerügt.
aa) Verfahrensgeschehen
Dem lag folgendes Verfahrensgeschehen zugrunde: Am zweiten Hauptverhandlungstag hatte der Vorsitzende hinsichtlich 30 in einer Liste aufgeführter Urkunden das Selbstleseverfahren gem. § 249 Abs. 2 StPO angeordnet. Die Liste umfasste acht DNA-Gutachten, die von privaten Laboren stammten. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen waren jeweils nicht i.S.d. § 256 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StPO für die Erstellung von Gutachten der betreffenden Art allgemein vereidigt. Die Strafkammer gab für die Verlesung der DNA-Gutachten weder einen Grund an, noch fasste sie hierzu einen Beschluss i.S.v. § 251 Abs. 4 S. 1, 2 StPO. Der Verteidiger erklärte in der Hauptverhandlung, gegen die Durchführung des Selbstleseverfahrens keine Einwände zu erheben, der (albanische) Angeklagte könne die Schriftstücke selbst lesen. Keiner der Verfahrensbeteiligten erteilte ein ausdrückliches Einverständnis mit der Verlesung der betreffenden Gutachten. Der Angeklagte und sein Verteidiger beanstandeten die Verlesung auch nicht als unzulässig. Die für die Erstellung der Gutachten verantwortlichen Sachverständigen wurden nicht in der Hauptverhandlung vernommen. Ebenso wenig fanden Erörterungen zu den Gutachten statt. An einem der folgenden Hauptverhandlungstage traf der Vorsitzende die Feststellungen über die Kenntnisnahme der Urkunden und die Gelegenheit hierzu.
In dem angefochtenen Urteil hat die Strafkammer dann u.a. ausgeführt, dass sich die Täterschaft des Angeklagten maßgeblich aus Angaben seines Mittäters ergebe, aber auch durch das Ergebnis der Beweisaufnahme im Übrigen belegt sei. Dabei hat das LG darauf abgestellt, dass in einigen Fällen der Anklage DNA-Spuren existierten, die ausweislich der im Selbstleseverfahren eingeführten DNA-Gutachten vom Angeklagten bzw. seinem Mittäter stammten.
bb) Kein Einverständnis des Angeklagten und des Verteidigers
Nach Auffassung des BGH (NJW 2019, 3736 = StraFo 2020, 24 = NStZ 2020, 94) hat das LG durch die von ihm gewählte Vorgehensweise den Grundsatz der persönlichen Vernehmung (§ 250 StPO) umgangen. Die Ersteller der Gutachten hätten vielmehr in der Hauptverhandlung angehört werden müssen. Denn die Voraussetzungen der hier allein in Betracht kommenden Ausnahmetatbestände des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO oder des § 256 Abs. 1 Nr. 1 StPO hätten nicht vorgelegen (vgl. dazu Burhoff, HV, Rn 2945 ff., 3272 ff., 3352 ff.).
Die Voraussetzungen des § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO waren nach Auffassung des BGH (a.a.O.) schon deshalb nicht erfüllt, weil weder der Angeklagte und sein Verteidiger noch die Staatsanwaltschaft ihr Einverständnis mit der Verlesung erteilt hatten. Ein solches sei insb. nicht darin zu erblicken, dass der Verteidiger erklärt habe, der Durchführung des Selbstleseverfahrens nicht entgegenzutreten. Im Hinblick auf die eingeschränkte Sprachkompetenz des Angeklagten habe er hiermit der Strafkammer nach den konkreten Umständen nur zu verstehen gegeben, dass er gegen das "Wie" der Einführung der Urkunden aus der Selbstleseliste keine Einwände hat erheben wollen. Zum "Ob" ihrer Einführung durch Verlesen habe er sich durch seine Erklärung nicht verhalten.
Auch eine stillschweigende Zustimmung habe nicht vorgelegen. Eine solche komme überhaupt nur in Betracht, wenn aufgrund der vorangegangenen Verfahrensgestaltung davon ausgegangen werden dürfe, dass sich alle Verfahrensbeteiligten der Tragweite ihres Schweigens bewusst gewesen sind (BGH NStZ 2015, 476; 2017, 299 m.w.N.; LR/Sander/Cirener, StPO, 26. Aufl., § 251 Rn 22 m.w.N.). Daran fehle es hier. Nach dem unwidersprochen gebliebenen Revisionsvorbringen sei das Erfordernis eines Einverständnisses für eine auf § 251 Abs. 1 Nr. 1 StPO gestützte Verlesung der Gutachten (etwa durch eine Frage des Vorsitzenden o.Ä.) zu keinem Zeitpunkt in der Hauptverhandlung thematisiert worden. Es sei angesichts der Vielzahl der Urkunden auf der Selbstleseliste auch nicht derart offensichtlich gewesen, dass es sich den Prozessbeteiligten aufgedrängt hätte.
Hinzu kam für den BGH (a.a.O.) Folgendes: Das Einverständnis – auch das stillschweigende – müsse bereits im Zeitpunkt der Anordnung der Verlesung durch das Gericht vorliegen (LR/Sander/Cirener, a.a.O., Rn 23). Hier habe der Vorsitzende gleichzeitig mit der Anordnung des Selbstleseverfahrens die auf diese Weise einzuführenden Urkunden bezeichn...