Wer die BGH-Rechtsprechung in Zivilverfahren verfolgt, kommt nicht umhin, sowohl eine umfangreiche Beschäftigung mit dem sog. Abgasskandal als auch eine bemerkenswerte Anzahl an Beschlussaufhebungen durch den BGH aufgrund überspannter Substantiierungsanforderungen durch die Berufungsgerichte festzustellen.
Ersteres hat den BGH wegen der nicht enden wollenden Flut an entsprechenden Klagen dazu bewogen, einen Hilfssenat einzurichten (der „VIa-Zivilsenat”) und Letzteres verursacht ein Unbehagen gegenüber der OLG-Rechtsprechung.
Es wurde von anwaltlicher Seite oft behauptet, dass Gerichte Substantiierungspflichten zur eigenen Arbeitserleichterung einsetzen, was von richterlicher Seite durchaus bestätigt wurde, aber noch nie so sichtbar geworden ist wie durch den sog. Abgasskandal.
Der Rechtssatz mit dem der BGH einen Gehörsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG) durch die Berufungsgerichte durch überspannte Substantiierungsanforderungen feststellt, ist stets derselbe. Er lautet:
Zitat
„Ein Sachvortrag zur Begründung eines Anspruchs ist bereits dann schlüssig und erheblich, wenn die Partei Tatsachen vorträgt, die in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet und erforderlich sind, das geltend gemachte Recht als in der Person der Partei entstanden erscheinen zu lassen. Die Angabe näherer Einzelheiten ist nicht erforderlich, soweit diese für die Rechtsfolgen nicht von Bedeutung sind. Das Gericht muss nur in die Lage versetzt werden, aufgrund des tatsächlichen Vorbringens der Partei zu entscheiden, ob die gesetzlichen Voraussetzungen für das Bestehen des geltend gemachten Rechts vorliegen. Sind diese Anforderungen erfüllt, ist es Sache des Tatrichters, in die Beweisaufnahme einzutreten und dabei gegebenenfalls die benannten Zeugen oder die zu vernehmende Partei nach weiteren Einzelheiten zu befragen oder einem Sachverständigen die beweiserheblichen Streitfragen zu unterbreiten [m.w.N.].”
Zu dem eigentlichen Abgasskandal stellt sich freilich ein „sekundärer Skandal”, wenn Berufungsgerichte der Automobilindustrie „helfen” und mangels gehörswidriger Überspannung der Substantiierungsanforderungen mit dem Bürger „kurzen Prozess” machen.
Um den kurzen Prozess rechtstechnisch zu begründen, werden entsprechende Beweisanträge als „Ausforschungsbeweise” oder „ohne greifbaren Anhaltspunkt” zurückgewiesen oder individuelle, fahrzeugbezogene Darstellungen von Umständen, die auf eine verbotene Manipulation schließen lassen, verlangt, die je nach konkretem Motorentyp wiederum unterschiedlich sein sollen oder weiterer Anhaltpunkte bedürften, wenn das Kraftfahrtbundesamt den betreffenden Fahrzeugtyp überprüft und keine Fehler gefunden hat etc. Teilweise soll sogar von einer „gefestigten OLG-Rechtsprechung” gesprochen werden, ohne zu erwähnen, dass eine gefestigte BGH-Rechtsprechung erhöhte Substantiierungsanforderungen gerade nicht duldet und durch den BGH aufgehobene OLG-Entscheidungen zu diesem Komplex mittlerweile Legion sind (vgl. Nissen/Elzer, Der willkürliche Beweisantritt, MDR 2022, 1313 ff.).
Skurrilerweise bevorzugen die entsprechenden Berufungsgerichte damit die Automobilindustrie, um der eigenen Arbeitsbelastung gerecht zu werden, die aber gerade durch die unlautere Arbeitsweise der Automobilindustrie erst hervorgerufen wurde.
Auffällig ist weiter, dass entsprechende Entscheidungen des BVerfG nicht ersichtlich sind, obwohl derselbe Grundrechtsmaßstab, nämlich Art. 103 Abs. 1 GG, betroffen ist. Das legt nahe, dass die Fälle, bei denen der Streitwert bzw. die Beschwer unter 20.000 EUR geblieben ist und die Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH damit nicht möglich war (§ 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO), durch das Raster gefallen sind. Daraus folgt, dass das amerikanische System mit „Strafschadensersatz” durchaus Vorzüge hat, denn die Fälle, die durch das o.g. Raster fallen, gehen leer aus.
Politische Folgerungen aus diesem Skandal sind – soweit ersichtlich – ausgeblieben. Auch der Hilfssenat des BGH wurde auf Kosten der Allgemeinheit eingerichtet.
Diese Entwicklung zeigt, dass der Kampf ums Recht eine nie endende Anwaltsaufgabe ist und sich die Anwaltschaft durch „gefestigte OLG-Rechtsprechung” nicht abschrecken lassen sollte.
ZAP F., S. 209–210
Rechtsanwalt Dr. Andreas Geipel, München