a) Dauer der Überlänge
Weiterhin Gegenstand der BSG-Rechtsprechung sind Klagen wegen überlanger Gerichtsverfahren. Zwar hält das BSG die generelle Rechtsfrage, "wann von einer "unangemessenen Dauer" des Gerichtsverfahrens gesprochen werden kann", für bereits geklärt (BSG, Beschl. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 7/14 B). Dabei beruft es sich auf ein Urteil vom 3.9.2014 (B 10 ÜG 2/13 R), über das bereits berichtet wurde (Sartorius/Pattar ZAP F. 18, S. 1409–1426). Einzelfragen stellen sich jedoch weiterhin. So ist die kleinste und größte Zeiteinheit für die Bemessung der Dauer der Überlänge des Verfahrens der Kalendermonat. Damit können Kalendermonate mit Aktivitäten des Gerichts, etwa der Ladung, nicht in die Untätigkeit eingerechnet werden (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 11/13 R; Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 7/14 R). Andererseits ist eine bloß jahresgenaue Feststellung der Überlänge unzulässig (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 1/13 R; Bestätigung von BSG, Urt. v. 21.2.2013 – B 10 ÜG 1/12 KL; Urt. v. 3.9.2014 – B 10 ÜG 2/13 R).
Zwar kann grundsätzlich jeder Instanz eine zwölfmonatige Vorbereitungs- und Bedenkzeit zugebilligt werden (BSG, Urt. v. 3.9.2014 – B 10 ÜG 2/13 R), dies gilt jedoch nicht schematisch. In besonders bedeutenden Fällen wie z.B. Musterprozessen (im konkreten Fall ging es um einen Tagessatz für Krankenhausbehandlungen bei einem großen Krankenhausträger) kann auch eine kürzere Bedenkzeit angezeigt sein (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 1/13 R). Zudem ist die Bedenkzeit der zweiten Instanz zu verkürzen, wenn es in der ersten Instanz bereits eine lange (rund dreijährige) gerichtliche Untätigkeit gegeben hat (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 7/14 R).
Bei der wertenden Bestimmung der Überlänge ist auch die Dringlichkeit einer Sache zu berücksichtigen. Dabei ist eine Klage auf Grundsicherungsleistungen nicht allein deshalb weniger bedeutsam und dringlich, weil sich der Kläger nicht um einstweiligen Rechtsschutz bemüht hat (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 11/13 R; so schon BSG, Urt. v. 3.9.2014 – B 10 ÜG 9/13 R; berichtet von Sartorius/Pattar ZAP F. 18, S. 1409–1426). Auch wird die Dringlichkeit der Entscheidung nicht allein dadurch geringer, dass sich der geltend gemachte Anspruch nach gerichtlichen Ermittlungen nicht beweisen lässt. Für erkennbar unschlüssige oder querulatorische Klagen hat das BSG dies allerdings offen gelassen (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 7/14 R unter Bezugnahme auf BFH, Urt. v. 17.4.2013 – X K 3/12).
Auch ist die Nichtannahme einer Verfassungsbeschwerde wegen Überlänge kein Indiz dafür, dass keine Überlänge vorlag (BSG, 12.2.2015 – B 10 ÜG 1/13 R).
Verzögerungen durch unvermeidbare Berichterstatterwechsel gehören nicht zur Zeit aktiver Verfahrensförderung, sondern werden zur Zeit der Untätigkeit gerechnet. Gegebenenfalls können sie jedoch in die Vorbereitungs- und Bedenkzeit fallen, die jeder Instanz zuzubilligen ist (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 1/13 R).
Die Dauer der unangemessenen Überlänge ist dem Vergleich zugänglich (BSG, Urt. v. 5.5.2015 – B 10 ÜG 5/14 R).
b) Geschützter Personenkreis
Weil die Verzögerungsrügen nach neuerer Rechtsprechung ein autonomer Teil des Bundesrechts sind, der unabhängig neben den menschen- und grundrechtlichen Garantien steht, kann ein Entschädigungsanspruch auch einer juristischen Person des Privatrechts (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 1/13 R) einschließlich einer Gesellschaft in Liquidation (BSG, Urt. v. 5.5.2015 – B 10 ÜG 5/14 R) zustehen.
c) Höhe der Entschädigung
Bei der Höhe der Entschädigung ist das BSG einer Begrenzung auf den Streitwert entgegengetreten: Auch bei Verfahren mit niedrigen Streitwerten (konkret: 216 EUR) ist i.d.R. vom Regelbetrag von 100 EUR pro Kalendermonat der Verzögerung (konkret: 1.900 EUR) auszugehen (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 11/13 R).
Auch das "Vertrösten" auf eine Wiedergutmachung auf andere Weise als Entschädigungszahlung ist nicht mehr so oft gangbar. Sie kommt insbesondere dann nicht in Betracht, wenn die Verletzung des Rechtsschutzanspruchs auf einer strukturellen Überlastung der Justiz beruht und sich darin eine generelle Vernachlässigung des Anspruchs aus Art 6 EMRK und Art 19 Abs. 4 GG ausdrückt (BSG, Urt. v. 12.2.2015 – B 10 ÜG 7/14 R), welche das BSG in Mecklenburg-Vorpommern ausgemacht zu haben scheint.
Strenger ist das BSG bei der Zuerkennung materiellen Schadensersatzes. Voraussetzung ist stets, dass der materielle Nachteil adäquat kausal gerade auf der Überlänge beruht. Da das im konkreten Fall nicht vorgelegen haben soll – die Klägerin machte als Verzögerungsschaden einen Schaden geltend, den sie nach (allerdings hinsichtlich der Höhe zweifelhafter) Auffassung des BSG auch bei rechtzeitiger Entscheidung gehabt hätte – ließ das BSG offen, ob die de lege lata bestehende Verschuldensabhängigkeit eines solchen Schadensersatzes (§ 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG) durch konventionskonforme Auslegung erreicht werden kann oder muss (BSG, Urt. v. 5.5.2015 – B 10 ÜG 5/14 R).