Im Vertragsstrafeprozess stellt sich regelmäßig die Frage, ob ein neues, gegenüber der ersten Zuwiderhandlung leicht geändertes Verhalten einen Anspruch auf Zahlung von Vertragsstrafe auslöst. Die Problematik kann durch nachfolgenden aktuellen Beispielfall veranschaulicht werden.
Beispiel nach LG Darmstadt, Urt. v. 11.11.2016 – 20 O 99/16:
Die Klägerin begehrt Zahlung von Vertragsstrafe wegen des Vertriebs von Wermut ohne Hinweis auf die darin enthaltenen Sulfite. Grundlage ist eine Verpflichtung des Beklagten, es bei Meidung einer Vertragsstrafe zu unterlassen, "im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs mit Letztverbrauchern Fernabsatzverträge betreffend Wein bzw. Schaumwein zu schließen, ohne dabei auf enthaltene Sulfite hinzuweisen (...)". Diese Verpflichtung war der Beklagte eingegangen, nachdem er unter Verweis auf die Lebensmittelinformations-Verordnung wegen des Vertriebs unzureichend gekennzeichneter Weine und Schaumweine abgemahnt worden war.
In derartigen Konstellationen rankt sich die Diskussion immer wieder darum, ob die Unterlassungserklärung über ihren Wortlaut hinaus auf wesensgleiche Sachverhalte ausgedehnt werden kann. Ausgangspunkt ist dabei die vom BGH entwickelte Kerntheorie, nach der es angezeigt ist, gerichtliche Unterlassungsgebote in der Zwangsvollstreckung über ihren Wortlaut hinaus auf solche Verstöße anzuwenden, in denen das "Charakteristische der Zuwiderhandlung" erneut zum Ausdruck kommt (im Detail vgl. Teplitzky/Feddersen, a.a.O., Kap. 57 Rn 11 ff.). Wie der BGH in seiner Rechtsprechung klargestellt hat, kann dieses in der gerichtlichen Praxis geprägte Verständnis des Unterlassungsanspruchs auch der Auslegung von Unterlassungsverträgen zugrunde gelegt werden:
Zitat
"Aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist die Annahme des Berufungsgerichts, dass von der Verpflichtungserklärung der Beklagten über den Wortlaut der Erklärung hinaus auch im Kern gleichartige Verletzungsformen erfasst werden sollten. Diese Auslegung entspricht dem Zweck des Unterlassungsvertrags, der regelmäßig darin liegt, nach einer Verletzungshandlung die Vermutung der Wiederholungsgefahr auszuräumen und die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens entbehrlich zu machen. Die Vermutung der Wiederholungsgefahr greift jedoch nicht allein für die identische Verletzungsform ein, sondern umfasst auch alle im Kern gleichartigen Verletzungshandlungen." (BGH GRUR 2003, 899 (899 f.) – Olympiasiegerin).
Auch Unterlassungsverträge können also über ihren Wortlaut hinausgehen (vgl. Teplitzky/Kessen, a.a.O. Kap. 8 Rn 16 ff.). Eine solche Auslegung ist jedoch nicht per se angezeigt, sondern muss auf einem erkennbaren Willen beider Parteien beruhen (BGH GRUR 1997, 931 – Sekundenschnell). Unterlassungsverträge sind keine Titel, sondern Verträge. Die für die Titelauslegung entwickelten Grundsätze gelten für sie nicht. Stattdessen ist ihre Reichweite von Unterlassungserklärungen nach den allgemeinen Vorschriften über die Vertragsauslegung zu bestimmen (BGH GRUR 2001, 758, 759 – Trainingsvertrag; GRUR 2006, 878, Tz. 18 – Vertragsstrafevereinbarung). Damit ist vorrangig auf den Wortlaut abzustellen (BGH GRUR 2003, 545, 546 – Hotelfoto). Nur wo der Wortlaut nicht eindeutig ist, kann eine Auslegung unter Berücksichtigung des objektiven Parteiwillens erfolgen (BGH GRUR 2001, 758, 759 – Trainingsvertrag), der in besonders gelagerten Fällen zu der Annahme führen kann, dass eine Erstreckung über den Wortlaut hinaus auf kerngleiche Sachverhalte gewünscht war (BGH GRUR 1997, 931 – Sekundenschnell); zur Auslegung können hierbei auch begleitende Äußerungen der Parteien herangezogen werden (BGH GRUR 1998, 483 – Der M.-Markt packt aus). Das Postulat, vom Gläubiger auf die konkrete Verletzungsform beschränkte Unterlassungserklärungen seien im Zweifel auch ohne ausdrückliche Einbeziehung auf kerngleiche Erweiterungsformen zu erstrecken (Teplitzky/Kessen, a.a.O., Kap. 8 Rn 16a), läuft den allgemeinen Grundsätzen der Vertragsauslegung zuwider und ist auch nicht durch die Interessenlage gerechtfertigt. Der Gläubiger hat es in der Hand, im Abmahnverfahren auf eine unmissverständliche Formulierung der Unterlassungsverpflichtung hinzuwirken. Versäumt er dies, so mag die Unklarheit zu seinen Lasten berücksichtigt werden; eine Berücksichtigung zu seinen Gunsten – wie dies z.B. im Vertragsstrafeprozess gegeben wäre – ist indes nicht angezeigt.
Hinweise:
- Außerhalb des Patentrechts sind Unterlassungserklärungen grundsätzlich anders zu formulieren als Klageanträge.
- Sofern auf die konkrete Verletzungsform beschränkte Unterlassungsverpflichtungen formuliert werden ("Kopieranträge"), sollte sichergestellt werden, dass die Anwendung der sog. Kerntheorie mitvereinbart wird.
- Besondere Vorsicht ist geboten bei Unterlassungserklärungen, die im Rahmen eines Prozessvergleichs geschlossen werden. Hier werden häufig die auf die konkrete Verletzungsform zugeschnittenen Klageanträge übernommen. Zwar liegt dann die Annahme nahe, dass die Auslegung entsprechend einem U...