Etwa 80–90 % der bei den Arbeitsgerichten anhängigen Kündigungsschutzprozesse werden nicht streitig entschieden, sondern stattdessen durch Abfindungsvergleich beendet, was die Bedeutung der hier behandelten Rechtsmaterie unterstreicht (vgl. Riemer ArbRAktuell 2019, 61). Im Fall der Kündigung von Arbeitgeberseite und einem Abwicklungs- oder Aufhebungsvertrag ist die Verhandlung der Abfindung Kernpunkt des Mandats, wenn sich die Parteien einvernehmlich voneinander trennen wollen. Vorbereitung, Taktik und die Verhandlungsfähigkeiten des anwaltlichen Beraters sind hier in besonderer Weise gefragt, um zu einem guten Ergebnis zu gelangen. Es gilt, vielfältige Parameter und die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, wobei der Sachverhalt im Gespräch zwischen Mandant und Anwalt sowohl auf Arbeitgeber- als auch auf Arbeitnehmerseite umfassend aufzuklären ist. Abfindungsverhandlungen und -vorstellungen sind immer wie ein System kommunizierender Röhren zu betrachten. Das heißt, die Parteien dürfen nie das Gesamtpaket aus den Augen verlieren, bei dem die Abfindung zwar vielleicht den wichtigsten Punkt, aber eben nur einen unter anderen Punkten, wie etwa dem Beendigungstermin, der bezahlten unwiderruflichen Freistellung, einer (streitigen) variablen Vergütung, dem Zeugnis etc., bildet.
Bei der Bestimmung des Abfindungsfaktors, der nach der allgemeinen Faustformel ½ Bruttomonatsgehalt pro Beschäftigungsjahr entspricht und bei Führungskräften schnell auf 1,0 und mehr ansteigt, sind vor allem das Alter des Arbeitnehmers, seine Chancen auf dem Arbeitsmarkt, seine Rentennähe, seine Betriebszugehörigkeit, ihn treffende Unterhaltspflichten, eine Schwerbehinderung oder Gleichstellung, ein Sonderkündigungsschutz, Kündigungsfristen, Fehler bei Ausspruch einer (betriebsbedingten) Kündigung, ultima-ratio-Überlegungen/mildere Mittel, Weiterbeschäftigungsmöglichkeiten, eine fehlerhafte Sozialauswahl, eine unterbliebene/fehlerhafte Anhörung des Betriebsrats, die Erfolgsaussichten im Kündigungsschutzprozess und die Annahmeverzugsrisiken des Arbeitgebers zu berücksichtigen. Weitere Faktoren sind die allgemeine wirtschaftliche Lage, die Branche, die Region und nicht zuletzt die finanzielle Lage des Unternehmens, wobei sich der Katalog der abfindungsbestimmenden Parameter durch einen findigen Berater immer ausweiten lässt.
Praxishinweis:
Aus Arbeitgebersicht muss im Kündigungsschutzprozess immer die Frage nach einer Anschlussbeschäftigung des Arbeitnehmers und der Anrechnung anderweitigen Verdienstes gem. § 615 BGB erfolgen und wenn möglich vom Arbeitsrichter protokolliert werden. Der Arbeitnehmer wird auf diese Weise – bildlich gesprochen – gezwungen, "Farbe zu bekennen", was eine Bewertung der Verzugslohnrisiken ermöglicht und die Verhandlungsposition bezüglich der Abfindung aus Sicht des Arbeitgebers ggf. erheblich verbessert. Im Umkehrschluss erweist es sich als anwaltliche Schlechtleistung, wenn die Frage unreflektiert unterbleibt und kein entsprechender Erkenntnisgewinn erzielt wird.