In der Debatte um die geplante audiovisuelle Aufzeichnung von Strafverfahren (vgl. dazu Anwaltsmagazin ZAP 2023, 166) haben die Richter ihren Widerstand gegen das Vorhaben des BMJ verstärkt. In einem aktuellen Beschluss der Präsidenten aller Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts sowie des Bundesgerichtshofs wird ausgeführt, dass das geplante „Gesetz zur digitalen Dokumentation der strafgerichtlichen Hauptverhandlung” (s. dazu Anwaltsmagazin ZAP 2022, 1254) alle drei Maximen des Strafprozesses – die Wahrheitsfindung, die Gerechtigkeit und den Rechtsfrieden – gefährden würde. Die Richter stellen sich damit u.a. gegen die Anwaltschaft, die das Vorhaben im Wesentlichen befürwortet.
In ihren Ausführungen weisen die Präsidentinnen und Präsidenten u.a. auf mögliche Komplikationen bei der Vernehmung von Opfern hin. Die Opferzeugen würden bei der ohnehin schon als zermürbend empfundenen Vernehmungssituation durch eine Aufzeichnung in dem Wissen um eine jederzeitige Verbreitungsmöglichkeit zusätzlich belastet. Diese Möglichkeit, etwa in Gestalt einer missbräuchlichen Veröffentlichung in sozialen Netzwerken, berge das Risiko einer Retraumatisierung der Betroffenen. Auch Angeklagte könne das Wissen um eine Aufzeichnung und die damit einhergehende Möglichkeit einer unbefugten Verbreitung einschüchtern. Zudem könne das Aussageverhalten von noch nicht vernommenen Zeugen beeinflusst werden, falls diese vorzeitig an eine Aufzeichnung oder ein Transkript der laufenden Zeugenvernehmungen gelangten.
Die Richter sehen zudem Gefahren für das Funktionieren der Strafjustiz. Die Tatsacheninstanz würde sich durch die geplante Aufzeichnung aufblähen und verzögern. Es bestehe die Gefahr, dass sich die Gerichte in hochstreitigen Verfahren mit einer „Beweisaufnahme über die Beweisaufnahme” befassen müssten. Dies gefährde das Vertrauen der Öffentlichkeit in eine funktionierende Strafjustiz. Ein Blick über die Grenzen hinweg zeige, dass eine Aufzeichnung von Verhandlungen, wie sie in anderen Ländern praktizierte werde, keineswegs effektiver sein müsse als das aktuelle deutsche Modell. So sei z.B. nicht ersichtlich, dass sich die Häufigkeit von Fehlurteilen in Ländern wie Schweden oder Spanien durch die Dokumentationen verringert hätte. Auch sei nicht erkennbar, dass etwa die Strafrechtspflege in den USA, die seit Langem über ein vollständiges Audiotransskript der Verhandlungen verfüge, leistungsfähiger wäre als dies in Deutschland mit seinem Unmittelbarkeitsprinzip der Fall sei.
Die Richter fordern den Bundesjustizminister auf, sein Vorhaben „grundlegend” zu überdenken. In seiner derzeitigen Form lehnen die Präsidenten und Präsidentinnen der Oberlandesgerichte es jedenfalls „geschlossen ab”, heißt es in dem Beschluss.
[Red.]