Die Schwelle von einem Jahr Freiheitsstrafe gilt auch bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung (LG Berlin, Beschl. v. 21.9.2023 – 517 Qs 33/23; LG Neubrandenburg, Beschl. v. 10.10.2023 – 23 Qs 110/23; s.a. LG Halle, Beschl. v. 18.11.2022 – 10a Qs 123/22, StraFo 2023, 98; LG Kiel, Beschl. v. 14.1.2022 – 5 Qs 95/21, StV-S 2023, 35 [Ls.]; LG Münster, Beschl. v. 22.8.2023 – 11 Qs 27/23). Ein geringfügiges Delikt rechtfertigt nicht schon dann die Bejahung des Merkmals „Schwere der Tat” i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO, weil später voraussichtlich eine Freiheitsstrafe/(Einheits-)Jugendstrafe von mehr als einem Jahr unter Berücksichtigung des hiesigen geringfügigen Delikts zu erwarten ist. Vielmehr ist eine Prüfung im Einzelfall erforderlich, ob das andere Verfahren und die Erwartung einer späteren Gesamtstrafe/Einheitsjugendstrafe das Gewicht des abzuurteilenden Falls tatsächlich so erhöht, dass die Mitwirkung des Verteidigers geboten ist. Auch bei einer überschaubaren zu erwartenden Rechtsfolge in einem Strafbefehl von 30 Tagessätzen Geldstrafe ist bei Gesamtstrafenfähigkeit die Bestellung eines Verteidigers erforderlich (LG Halle, Beschl. v. 13.6.2023 – 3 Qs 60/23, StV 2023, 595 [Ls.]). Die Schwelle von zu erwartender Freiheitsstrafe von einem Jahr gilt bei der (nachträglichen) Gesamtstrafenbildung aber auch dann, wenn die verfahrensgegenständliche Verurteilung voraussichtlich geringfügig ausfallen und die Gesamtstrafenbildung nur unwesentlich beeinflussen wird, jedoch neben der zu erwartenden nachträglichen Gesamtstrafenbildung auch noch ein Bewährungswiderruf droht (LG Münster, Beschl. v. 21.8.2023 – 11 Qs 27/23).
Erstrebt die Staatsanwaltschaft mit einer Berufung gegen ein erstinstanzliches Verfahren in einer Parallelsache, in der der Angeklagte bereits schon zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden ist, eine (deutlich) höhere Freiheitsstrafe, sodass dem Angeklagten auch im Wege einer (ggf. nachträglichen) Gesamtstrafenbildung mit der Strafe aus einer etwaigen Verurteilung in dem Verfahren, in dem über eine Pflichtverteidigerbestellung zu entscheiden ist, insgesamt ein (deutlich) höherer Freiheitsentzug als ein Jahr drohen würde, ist ihm wegen der Schwere der Tat ein Pflichtverteidiger zu bestellen, auch wenn es sich bei der Verurteilung aus dem Verfahren, in dem die Entscheidung zu treffen ist, voraussichtlich nur um eine Geldstrafe handeln wird (LG Halle, Beschl. v. 25.11.2022 – 3 Qs 135/22).
Bei der Frage, ob die „Schwere der Tat” eine Pflichtverteidigerbestellung erfordert, sind neben der zu erwartenden Strafe auch sonstige schwerwiegende Nachteile zu berücksichtigen, wie z.B. die drohende Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gem. § 64 StGB (OLG Celle, Beschl. v. 4.5.2023 – 2 Ws 135/23, StraFo 2023, 355). Die Schwere der dem Beschuldigten drohenden Rechtsfolgen, die die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheinen lässt, bestimmt sich nicht lediglich nach der im konkreten Verfahren zu erwartenden Rechtsfolge, sondern es haben auch sonstige schwerwiegende Nachteile wie beispielsweise ein drohender Bewährungswiderruf in die Entscheidung mit einzufließen (LG Karlsruhe, Beschl. v. 16.9.2022 – 6 Qs 41/22, StV 2023, 159; LG Koblenz, Beschl. v. 24.5.2023 – 12 Qs 26/23 zugleich auch zur Frage, wann weitere laufende Verfahren die Bestellung eines Pflichtverteidigers erfordern; LG Oldenburg, Beschl. v. 17.8.2023 – 4 Qs 252/23). Auch dann, wenn dem Beschuldigten im Falle der Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 StGB) der Verlust des Arbeitsplatzes droht und wäre er daran gehindert, den ausgewählten Beruf bis zu einem etwaigen Wiedererwerb der Fahrerlaubnis auszuüben, wiegt die zu erwartende Rechtsfolge schwer, sodass dem Beschuldigten ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist (LG Itzehoe, Beschl. v. 2.11.2023 – 14 Qs 160/23). Befindet sich der Verurteilte in Strafhaft und wird währenddessen die Bewährungsaussetzung in anderer Sache widerrufen, so ist ihm für die Beschwerde gegen den Widerruf kein Pflichtverteidiger zu bestellen, wenn dort die Sach- und Rechtslage einfach ist und sich der Verurteilte selbst verteidigen kann (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 27.10.2022 – 12 Qs 53/22, StraFo 2023, 98). Insbesondere ist auch eine Einziehungsentscheidung nach §§ 73 ff. StGB, obgleich es sich nicht um eine Nebenstrafe, sondern um eine Maßnahme i.S.d. § 11 Abs. 1 Nr. 8 StGB handelt, als sonstige Rechtsfolge, die dem Angeklagten im Fall seiner Verurteilung droht, zu berücksichtigen (OLG Bremen, Beschl. v. 8.2.2023 – 1 Ws 6/23, StV 2023, 583 [Ls.]).