Ist der „Vorgang” unübersichtlich, resultierend aus der Aktenführung, ist von einer schwierigen Sach- und Rechtslage auszugehen, deren Bestehen die Beiordnung eines Pflichtverteidigers als geboten erscheinen lassen kann (LG Magdeburg, Beschl. v. 28.11.2022 – 23 Qs 71/22, StraFo 2023, 276 = StV 2023, 596 [Ls.]).
Eine schwierige Sachlage i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO ist nicht allein mit dem Umstand zu begründen, dass ein Sachverständiger am Verfahren beteiligt ist. Die Notwendigkeit der sachverständigen Beurteilung eines behaupteten Nachtrunks ist kein Grund für die Bestellung eines Pflichtverteidigers (LG Hannover, Beschl. v. 5.9.2023 – 63 Qs 38/23). Ein Fall der notwendigen Verteidigung liegt vor, wenn aufzuklären ist, ob es sich bei einer Äußerung des Beschuldigten um eine verwertbare Spontanäußerung gehandelt hat oder ob ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen §§ 163a Abs. 4 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2 StPO in Betracht kommt (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 5.6.2023 – 1 Qs 37/23; ähnlich AG Amberg, Beschl. v. 17.10.2023 – 4 Gs 2469/23 jug).
Die Rechtslage ist i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO schwierig, wenn es bei der Anwendung des materiellen oder formellen Rechts auf die Entscheidung nicht ausgetragener Rechtsfragen ankommt, oder wenn die Subsumtion voraussichtlich aus sonstigen Gründen Schwierigkeiten bereiten wird. Es ist notwendig eine Gesamtwürdigung von Sach- und Rechtslage vorzunehmen, um den Schwierigkeitsgrad zu beurteilen. Gemessen an diesen Maßstäben ist von einer Schwierigkeit der Rechtslage auszugehen, wenn zwei Justizorgane die Beweislage unterschiedlich beurteilen (LG Potsdam, Beschl. v. 30.8.2022 – 25 Qs 38/22) oder die Auffassungen zur Strafbarkeit des Verhaltens des Beschuldigten zwischen den Gerichten und der Staatsanwaltschaft offenkundig auseinandergehen (LG Bonn, Beschl. v. 7.8.2023 – 63 Qs 63/23). Eine schwierige Rechtslage besteht bereits, wenn divergierende obergerichtliche Entscheidungen zu einer Rechtsfrage vorliegen, ohne dass bislang der BGH dazu entschieden hat, wie z.B. zur Frage der Volksverhetzung für ein Profilbild, auf dem der gelbe Stern mit der Aufschrift „Ungeimpft” abgebildet ist (LG Regensburg, Beschl. v. 9.9.2022 – 5 Qs 157/22; ähnlich LG Rottweil, Beschl. v. 22.8.2022 – 3 Qs 36/22; AG Lüdenscheid, Beschl. v. 21.8.2022 – 51 Ds 42/22, StV-S 2023, 81 [Ls. für gerügte Verfassungswidrigkeit von § 29 BtMG]).
Für die Beantwortung der Frage, ob wegen der Schwierigkeit der Rechtslage ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, kommt es nicht darauf an, ob tatsächlich von einem Verwertungsverbot auszugehen ist. Eine schwierige Rechtslage ist bereits dann anzunehmen, wenn in der Hauptverhandlung eine Auseinandersetzung mit der Frage erforderlich sein wird, ob ein Beweisergebnis einem Verwertungsverbot unterliegt (LG Dresden, Beschl. v. 4.8.2023 – 2 Qs 34/23 jug). Die Sach- und Rechtslage weist Schwierigkeiten auf, wenn gegen den Angeklagten ein Strafbefehl wegen einer Tat gem. § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG erlassen worden ist, nachdem er mit einer abgelaufenen Duldungsbescheinigung angetroffen wurde (LG Halle, Beschl. v. 3.9.2021 – 10a Qs 91/21, StV 2023, 161). Nach Auffassung des OLG Frankfurt a.M. gebietet aber nicht jede mögliche Verschlechterung der zu erwartenden Rechtsfolge in der Berufung die Beiordnung eines Pflichtverteidigers. Bei einer möglichen Verschlechterung durch maßvolle Erhöhung einer Geldstrafe (z.B. wegen einer Urkundenfälschung), weil das Berufungsgericht dem erstinstanzlichen Antrag der Staatsanwaltschaft folgen könnte, ist eine Beiordnung nicht immer geboten (OLG Frankfurt a.M., Beschl. v. 9.2.2023 – 7 Ws 25/23).
Aus § 428 Abs. 2 StPO ergibt sich keine ausdrückliche Einschränkung dahingehend, dass der Beiordnungsantrag nicht von einem Rechtsanwalt für die Einziehungsbeteiligte gestellt werden darf. Die Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage (vgl. § 140 Abs. 2 Alt. 3 StPO) beurteilt sich für eine Beiordnung nach § 428 Abs. 2 StPO nicht nach der gesamten Strafsache, sondern nur nach dem Verfahrensteil, den die Einziehungsbeteiligung betrifft (OLG Jena, Beschl. v. 11.4.2023 – 1 Ws 24/23, NJW 2023, 3179 [Ls.] = NStZ-RR 2023, 288). Die Rechtslage ist schwierig i.S.v. § 140 Abs. 2 StPO, wenn dem Beschuldigten Steuerhinterziehung vorgeworfen wird, da es sich beim Steuerstrafrecht um Blankettstrafrecht handelt (LG Kaiserslautern, Beschl. v. 1.12.2022 – 7 Qs 8/22).
Im Jugendstrafverfahren gelten für die Beurteilung der Pflichtverteidigerbestellung dieselben Grundsätze wie im Strafverfahren gegen Erwachsene. Sind beide Mitangeklagten anwaltlich vertreten, ist bereits aus diesem Grund ein Fall der notwendigen Verteidigung bei einem Erwachsenen anzunehmen (LG Passau, Beschl. v. 22.2.2023 – Qs 16/23 jug). Ist neben einem Minderjährigen eines seiner Elternteile angeklagt, mit diesem gemeinschaftlich eine Straftat begangen zu haben, so kann sich der Jugendliche in aller Regel nicht selbst verteidigen, weshalb auch dann ein Fall der notwendigen Verteidigung gegeben ist, w...