Eine Pflichtverteidigerbestellung kommt in Betracht, wenn der Beschuldigte unter Betreuung steht. § 140 Abs. 2 StPO ist dabei schon anwendbar, wenn an der Fähigkeit zur eigenen Verteidigung erhebliche Zweifel bestehen (LG Chemnitz, Beschl. v. 10.7.2023 – 4 Qs 232/23, StV 2023, 596 [Ls.]; LG Oldenburg, Beschl. v. 15.11.2023 – 1 Qs 364/23; LG Saarbrücken, Beschl. v. 12.10.2023 – 5 Qs 69/23). Das kann der Fall sein, wenn der Betreuer mit dem Aufgabenkreis „Vertretung gegenüber Behörden” bestellt ist (OLG Celle, Beschl. v. 4.5.2023 – 2 Ws 135/23, StraFo 2023, 355; LG Chemnitz, a.a.O.; LG Hagen, Beschl. v. 19.12.2023 – 43 Qs 43/23; LG Stade, Beschl. v. 25.4.2023 – 302 Qs 2550 Js 53673/22 (15/23)). Es macht aber nicht jede Bestellung eines Betreuers – auch nicht für den Aufgabenkreis Vertretung gegenüber Behörden – die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich, sondern es ist jeweils eine Einzelfallprüfung vorzunehmen. Ist aber die Betreuung mit einem weiten Aufgabenkreis eingerichtet worden und besteht sogar ein Einwilligungsvorbehalt für Vermögensangelegenheiten, ist ein Pflichtverteidiger zu bestellen (LG Wuppertal, Beschl. v. 23.8.2023 – 26 Qs 232/23).
Ein Fall der notwendigen Verteidigung gem. § 140 Abs. 2 StPO liegt vor, wenn ersichtlich ist, dass sich der Beschuldigte aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht selbst verteidigen kann, weil der Beschuldigte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an einer paranoiden Schizophrenie leidet, weder lesen noch schreiben kann, in seinem Gedankengang assoziativ gelockert bis zerfahren und wahnhaft ist (LG Berlin, Beschl. v. 21.9.2023 – 517 Qs 33/23). Eine nicht ausreichende Wahrnehmung der Interessen durch einen Verletzten kann grundsätzlich auch dann vorliegen, wenn der Betroffene an einer Lese- oder Rechtschreibschwäche leidet (LG Berlin, Beschl. v. 5.9.2023 – 534 Qs 156/23). Von der Unfähigkeit kann ausgegangen werden, wenn auf der Grundlage ärztlicher Unterlagen beim Angeschuldigten eine Schwerbehinderteneigenschaft mit einem Grad der Behinderung von 50 festgestellt und diese mit der Gesundheitsstörung „Verhaltensstörungen und Lernbehinderung” begründet wird (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 18.7.2023 – 1 Qs 48/23). Es liegt ein Fall der notwendigen Verteidigung vor, wenn ein sehbehinderter Beschuldigter mit einer GdB von 40 in Bezug auf seine Sehminderung die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragt (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 30.6.2023 – JKII Os 16/23 jug unter Hinweis auf § 140 Abs. 1 Nr. 11 StPO; AG Amberg, Beschl. v. 19.9.2023 – 6b GS 2051/23, StV-S 2023, 160 [Ls.]). Eine diagnostizierte Persönlichkeitsstörung der Angeklagten indiziert eine latente Unfähigkeit zur Selbstverteidigung, die den Anforderungen des § 140 Abs. 2 StPO genügt (LG Frankfurt a.M., Beschl. v. 13.12.2022 – 5-16 Qs 50/22). Bei Jugendlichen wird eine Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) i.d.R. zur Bestellung eines Pflichtverteidigers führen (LG Dortmund, Beschl. v. 27.7.2023 – 31 Qs 18/23, StV-S 2023, 160 [Ls.]).
Liegt beim Beschuldigten aktuell eine Suchtmittelerkrankung vor, welche zumindest zu einer erheblich eingeschränkten Schuldfähigkeit im Tatzeitpunkt führte, und ist die komplexe Thematik einer Unterbringung nach § 64 StGB gegeben, ist davon auszugehen, dass der Beschuldigte nicht in der Lage ist, sich ausreichend selbst zu verteidigen (LG Nürnberg-Fürth, Beschl. v. 12.9.2023 – 16 Qs 39/23).
Der Beschuldigte kann sich nicht selbst verteidigen i.S.d. § 140 Abs. 2 StPO, wenn die Staatsanwaltschaft die Ansicht vertritt, Name und weitere Daten der Anzeigenerstatterin müssten vor dem Beschuldigten geheim gehalten werden. Dadurch entsteht für den Beschuldigten ein Informationsdefizit, welches dadurch ausgeglichen werden muss, dass dem Beschuldigten ein Verteidiger zu bestellen ist, welcher vollumfängliche Akteneinsicht erhält (AG Halle/Saale, Beschl. v. 2.6.2023 – 302 Cs 234 Js 6479/23, StraFo 2023, 318).
Die Beiordnung eines Pflichtverteidigers wird bei einem nicht hinreichend sprachkundigen Angeklagten nicht bereits deshalb entbehrlich, wenn die sich aus den Sprachschwierigkeiten ergebenden Einschränkungen seiner Verteidigungsmöglichkeiten durch die Hinzuziehung eines Dolmetschers „abgemildert” werden. Vielmehr kann in solchen Fällen nur dann von der Verteidigerbestellung abgesehen werden, wenn die Einschränkungen durch den Dolmetscher völlig ausgeglichen werden, was bei einer schwierigen Sach- oder Rechtslage fraglich sein kann (LG Stuttgart, Beschl. v. 27.4.2023 – 9 Qs 23/23).