"Öffentlich wird über eine Überlastung der Gerichte lamentiert – dabei schwimmen der Ziviljustiz die Fälle davon wie nie zuvor."
Mit diesem dem Bremer Rechtsprofessor Calliess zugeschriebenen Zitat wird ein vor kurzem in der "FAZ" erschienener Beitrag mit dem Titel "Den Gerichten schwimmen die Fälle weg" und dem Untertitel "Kuriose Entwicklung: Justiz beklagt Überlastung, dabei nehmen die Prozesse ab" eingeleitet. Herr Calliess sollte es wissen. Schließlich hat er für den 70. Deutschen Juristentag 2014 ein Gutachten zum Thema "Der Richter im Zivilprozess – Sind ZPO und GVG noch zeitgemäß" verfasst.
Verkehrte Welt also: Professoren richten über Richter. Richter klagen – über ihre Belastung.
Die Kritiker, zu denen neben Professor Calliess auch Professor Wolf gehört, zerbrechen sich den Kopf, wie es möglich ist, dass die Belastungszahlen der Ziviljustiz zurückgehen und sich die durchschnittliche Verfahrensdauer statistisch trotzdem verlängert hat. Diesen Aussagen stellt der Bericht ein Statement des Deutschen Richterbundes gegenüber, wonach bundesweit 2.000 Richter und Staatsanwälte fehlen.
Also schaffen faule Richter nicht einmal mehr ihr reduziertes Pensum und stehen noch früher als ohnehin schon auf dem Tennisplatz?
So simpel ist es denn doch nicht: So notwendig es sein kann, Richter zu kritisieren, so untauglich sind die vorgebrachten Argumente und Kausalketten. Verantwortlich für den Rückgang der Neueingänge bei Gericht sollen Mediation, Schiedsgerichte und für einzelne Branchen eingerichtete Schlichtungsstellen sein. Wegen der niedrigen Zinsen lohne es sich zudem nicht mehr, sich vor Gericht verklagen zu lassen. Einmal dabei, bezweifelt Professor Calliess auch gleich noch die Methode der "Personalberechnung" (gemeint wohl: Personalbedarfsberechnung) für den Richterbedarf und wittert eine "Verschleierungstaktik".
Die Argumente der "Justizforscher" überzeugen mich nicht. Sie sind kurzschlüssig und vernachlässigen, dass das System "Justiz" eine ganze Reihe von Stellschrauben hat, die sich wechselseitig beeinflussen. Es reicht methodisch nicht aus, auf Eingangszahlen, Verfahrensdauern und Personalbedarf zu blicken, um daraus scheinbar spektakuläre Schlussfolgerungen zu ziehen.
Richtig ist: Außergerichtliche Möglichkeiten der Streitbeilegung führen zwangsläufig zu einem Rückgang der Eingangszahlen bei Gericht. Für bestimmte Streitigkeiten sind diese Alternativen der Ziviljustiz angeblich überlegen. Die Richter sollen sich auf Fälle konzentrieren können, in denen ihre Entscheidungskompetenz wirklich benötigt wird.
Vermindern sich die Eingangszahlen um diese Fälle, dürften sich nach dem Tenor des Berichts die Erledigungszeiten eigentlich nicht verlängern. Diese Schlussfolgerung beruht auf einem Denkfehler. Diejenigen Fälle, die sich wie z.B. Nachbarschaftsstreitigkeiten für eine außergerichtliche Streitbeilegung eignen, sind gerade die, die verhältnismäßig schnell zu erledigen waren. Zurück bleiben die tendenziell schwierigeren und umfangreicheren Sachen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, sondern naheliegend, dass diese Entwicklung zu einer Verlängerung der durchschnittlichen Dauer der Gerichtsverfahren führt. Unausgesprochen rauscht im Hintergrund die Grundüberzeugung, dass die Verlängerung von Prozessen negativ bewertet wird. Natürlich ist es wünschenswert, wenn Parteien schnell zu ihrem Recht kommen. Andererseits darf der "kurze Prozess" nicht zu Lasten von Qualität und Gründlichkeit gehen.
Es entspricht ferner herrschenden Vorurteilen, für die Verlängerung von Prozessen die Richter verantwortlich zu machen. Wer kennt nicht die Entscheidung, deren Verkündung "aus dienstlichen Gründen" mehrfach verlegt worden ist? Allerdings sollten Kritiker auch das andere Auge öffnen. Für erhebliche Verzögerungen sorgen Anwälte und Sachverständige. Es wäre interessant zu erfahren, wie viele Fristverlängerungsanträge der Rechtsanwälte in einem durchschnittlichen Verfahren gestellt werden, denen – schon um dem Gehörsanspruch aus Art. 103 Abs. 1 GG zu genügen – stattgegeben wird. Sachverständige tragen zum Übel bei, indem sie die Gutachtenaufträge nicht zügig bearbeiten. Schnell kommen da einige Monate zusammen.
Schwer nachvollziehbar ist der Hinweis auf die PEBB§Y-Zahlen (Personalbedarfsberechnungssystem). Was ist mit den "deutlich niedrigeren Werten" gemeint, zu denen die Landesrechnungshöfe angeblich kommen? Falsch ist bereits der Einstieg. Der Hinweis, dass PEBB§Y auf einer "Selbsteinschätzung" der Richter beruht, ist mindestens missverständlich. Er legt nahe, dass Richter durch für sie günstige Selbstaufschreibungen ihre Belastung nach oben manipulieren können.
Wer das ernsthaft vertreten will, kennt die Justizverwaltungen nicht. Sie sind schon aus haushalterischen Gründen stets dabei, den Personalbedarf zu "drücken". Dies geht am besten durch die statistische Verkleinerung der tatsächlichen Belastung. Das Interesse der Verwaltung ist nicht das Interesse der Richter mit der Folge, dass man sich stereotyp aneinander abarbeitet.
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