1. Anwendbarkeit des § 10 Abs. 6 S. 3 WEG
Die Möglichkeit, dass die Wohnungseigentümergemeinschaft die Geltendmachung von Ansprüchen der einzelnen Wohnungseigentümer "an sich zieht", wird aus § 10 Abs. 6 S. 3 WEG abgeleitet. Danach nimmt die Wohnungseigentümergemeinschaft u.a. Rechte und Pflichten der Wohnungseigentümer wahr, soweit diese gemeinschaftlich geltend gemacht werden können. Der BGH wendet § 10 Abs. 6 S. 3 WEG ohne weitere Diskussion auch auf Ansprüche der Wohnungseigentümer an, die gegen einen anderen Wohnungseigentümer gerichtet sind, also auch im Innenverhältnis zwischen den Wohnungseigentümern (zur Problematik siehe Lehmann-Richter in: Riecke/Schmid, WEG, 4. Aufl. 2015, § 10 Rn. 315 und 325).
Hinweis:
Wenn es um die Erfüllung von Pflichten der Wohnungseigentümer geht, wendet der BGH (MDR 2014, 397 = GE 2014, 527 = NZM 2014, 277; WuM 2015, 43 = NZM 2015, 53 = ZfIR 2015, 19) § 10 Abs. 6 S. 3 WEG nur im Außenverhältnis an, aber nicht im Verhältnis der Wohnungseigentümer zueinander.
2. Voraussetzungen
Die Rechtsausübung durch die Wohnungseigentümergemeinschaft kann bereits dann erfolgen, wenn sie förderlich ist (BGH, Urt. v. 5.12.2014 – V ZR 5/14, ZAP EN-Nr. 273/2015). Für wen sie förderlich sein muss ergibt sich aus § 21 Abs. 4 WEG, wonach das Interesse der Gesamtheit der Wohnungseigentümer maßgeblich ist. Es kommt deshalb nur auf deren Interesse an und nicht auf das Interesse des Schuldners (Jennißen in: Jennißen, Wohnungseigentumsgesetz, 4. Aufl. 2015, § 10 Rn. 62c; a.A. Klein in: Bärmann, Wohnungseigentumsgesetz, 12. Aufl. 2013, § 10 Rn. 251).
Nicht notwendig ist, dass es um gleichgerichtete Ansprüche sämtlicher Wohnungseigentümer geht (Riecke/Elzer in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 9. Aufl. 2014, § 10 WEG Rn. 27).
Der Beschluss muss den allgemeinen Grundsätzen ordnungsmäßiger Verwaltung entsprechen (OLG Celle ZMR 2013, 295). In diesem Rahmen entscheiden die Wohnungseigentümer nach ihrem Ermessen (Klein in: Bärmann, Wohnungseigentumsgesetz, 12. Aufl. 2013, § 10 Rn.251). Dabei steht den Wohnungseigentümern ein weiter Ermessensspielraum zu (LG Itzehoe ZMR 2015, 52).
Hinweis:
Ein Beschluss, der den Grundsätzen ordnungsmäßiger Verwaltung widerspricht ist anfechtbar, aber nicht nichtig (Merle in: Bärmann, Wohnungseigentumsgesetz, 12. Aufl. 2013, § 23 Rn. 205). Der besonders betroffene Wohnungseigentümer kann sich deshalb später nicht mehr darauf berufen, dass bereits das Ansichziehen fehlerhaft war.
3. Durchführung
Das Ansichziehen erfolgt durch Mehrheitsbeschluss der Wohnungseigentümer.
Der Inhalt des Beschlusses kann sich auf das bloße Ansichziehen beschränken, aber auch konkrete Maßnahmen wie eine Klageerhebung zum Inhalt haben.
4. Folgen
Der Beschluss zur gemeinschaftlichen Rechtsverfolgung entzieht den einzelnen Wohnungseigentümern die Prozessführungsbefugnis (BGH, Urt. v. 5.12.2014 – V ZR 5/14, ZAP EN-Nr. 273/2015). Das ist endgültig, auch wenn die Wohnungseigentümergemeinschaft später von der Rechtsverfolgung Abstand nimmt (LG München I ZMR 2011, 815). Siehe hierzu im einzelnen unten (IV.).
Darüber hinaus bejaht die h.M. (Klein in: Bärmann, Wohnungseigentumsgesetz, 12. Aufl. 2013, § 10 Rn. 240; Becker MietRB 2007, 80) auch das Recht der Wohnungseigentümergemeinschaft über die Forderung zu verfügen. Der einzelne Wohnungseigentümer kann also auch seines materiell-rechtlichen Anspruchs verlustig gehen.
Hinweis:
Das erscheint verfassungsrechtlich nicht unproblematisch, da dem einzelnen Wohnungseigentümer sein Individualrecht faktisch entzogen wird (Schmid, NZM 2009, 721 [723]). Nach der Rechtsprechung des BVerfG (NZM 2005, 182) ist das Eigentumsgrundrecht des Art. 14 GG auch im Verhältnis der Wohnungseigentümer zueinander zu beachten.
5. Anfechtung und einstweilige Verfügung
Der Beschluss über das Ansichziehen kann mit der Anfechtungsklage angegriffen werden (BGH, Urt. v. 5.12.2014 – V ZR 5/14, ZAP EN-Nr. 273/2015). Angesichts der geringen Voraussetzungen für das Ansichziehen hat eine Anfechtung des Beschlusses über das "Ansichziehen" meist keinen Erfolg (Briesemeister ZMR 2014, 951 [952]). Der Beschluss ist zudem wirksam, bis er rechtskräftig für unwirksam erklärt wird (BGH ZMR 2007, 798). Die h.M (s. BayObLG ZMR 2005, 639; LG München I ZMR 2009, 146; LG Frankfurt/M. ZMR 2012, 788; hierzu kritisch: Schmid ZMR 2013, 93 ff. unter Hinweis auf BGH WuM 2012, 516 = GE 2012, 1237) leitet hieraus eine Verpflichtung des Verwalters zum sofortigen Vollzug ab. Von einer einstweiligen Verfügung zur Aussetzung des Beschlusses wird nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht (LG München I ZMR 2009, 146; LG Frankfurt/M. ZMR 2012, 788; AG Bonn ZMR 2012, 735; a.A. Schmid ZMR 2013, 93 ff.). Teilweise wird hierfür sogar der Nachweis einer Schädigungsabsicht verlangt (Briesemeister ZMR 2014, 951 [952]). Bis der Beschluss rechtskräftig für ungültig erklärt worden ist, sind meist schon vollendete Tatsachen geschaffen (Briesemeister ZMR 2014, 951 [952]).