Der heilige Nepomuk gilt nicht nur als Schutzpatron der Brücken, er wird auch als Schutzpatron der Rechtsanwälte angesehen, deren Verschwiegenheitspflicht dem Beichtgeheimnis vergleichbar ist.
Nepomuk hatte sich im März 1393 geweigert, dem König Wenzel IV. in Prag Auskunft darüber zu geben, was dessen Ehefrau Johanna dem Priester bei ihrer Beichte anvertraut hatte. Nepomuk wahrte das Beichtgeheimnis trotz Folter und wurde am 20.3.1393 auf Befehl des Königs von der Moldaubrücke in den reißenden Fluss gestürzt.
Ebenso wie das Beichtgeheimnis für Priester ist die Verschwiegenheitspflicht der Rechtsanwälte ein unverzichtbarer Grundpfeiler anwaltlicher Berufsausübung und Grundlage für das Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandant. Seit mehr als 20 Jahren wird die Frage diskutiert, ob es sich bei der Verschwiegenheitspflicht des Rechtsanwalts um ein eigenständiges Schweigerecht handelt oder ob die Verschwiegenheitspflicht der Disposition des Mandanten unterliegt.
Die überwiegende Rechtsprechung und Kommentierung halten es für zulässig, dass ein Rechtsanwalt von seiner Schweigepflicht entbunden werden kann und begründen diese Dispositionsbefugnis des Mandanten damit, dass er nach alter deutscher Rechtstradition "Herr des Geheimnisses" sei.
Diese Position des Mandanten würde durch ein eigenständiges Schweigerecht des Rechtsanwalts nicht beeinträchtigt. Jedem Mandanten ist es überlassen, all das, was Gegenstand des Mandatsverhältnisses ist, in die Welt hinauszuposaunen.
Die Entbindung von der Schweigepflicht soll den eigenen Wahrnehmungen und Bekundungen des Mandanten dadurch mehr Wahrheitsgehalt und Überzeugungskraft verleihen, dass diese Äußerungen von dem beauftragten Rechtsanwalt gemacht werden. Der Rechtsanwalt wird zum "Mietmaul" des Mandanten, seine Stellung als Organ der Rechtspflege wird dazu "missbraucht", den eigenen Erklärungen des Mandanten einen höheren Wahrheitsgehalt beizumessen.
Paradebeispiel in dieser Diskussion ist ein Wiederaufnahmeverfahren in einer Strafsache, welches u.a. damit begründet wird, dass der Mandant von Anfang an gegenüber seinem Verteidiger seine Unschuld beteuert und sich nur deshalb zu einem falschen Geständnis habe verleiten lassen, weil ihm für diesen Fall eine Bewährungsstrafe in Aussicht gestellt wurde.
Auch hier soll das anwaltliche Berufsgeheimnis dazu dienen, den Wahrheitsgehalt einer Erklärung des Mandanten zu bekräftigen. Erfahrene Strafverteidiger wissen, dass Mandanten oft auch ihnen gegenüber die Täterschaft bestreiten, weil sie glauben, hierdurch eine bessere Strafverteidigung zu erwirken. Ebenso ist es denkbar, dass der Mandant von Anfang an beabsichtigt hat, für ein eventuelles Wiederaufnahmeverfahren Vorsorge zu treffen.
Nur ein eigenständiges Schweigerecht des Rechtsanwalts, welches nicht der Dispositionsbefugnis des Mandanten unterliegt, garantiert Rechtssicherheit und Klarheit, es dient auch dem Ansehen der Anwaltschaft.
Mehrere europäische Berufsordnungen, wie z.B. in der Schweiz und in Frankreich, normieren ein eigenständiges Schweigerecht des beauftragten Rechtsanwalts unabhängig von einer eventuellen Entbindungserklärung des Mandanten.
Ein eigenständiges Schweigerecht des Rechtsanwalts würde die Konfliktsituation vermeiden, die beispielsweise dadurch entstehen kann, dass in einem Insolvenzverfahren oder einem Steuerstrafverfahren der Mandant aufgefordert wird, seinen Rechtsanwalt von seiner Schweigepflicht zu entbinden. Geklärt wäre dann auch die Frage, ob ein Rechtsanwalt der Witwe als Alleinerbin eines verstorbenen langjährigen Mandanten Auskunft über alle Umstände erteilen muss, die der Mandant im Vertrauen auf die anwaltliche Verschwiegenheitspflicht dem Rechtsanwalt anvertraut hat.
Dem Mandanten als "Herr des Geheimnisses" ist es freigestellt, sein "Herrschaftswissen" nach eigenem Gutdünken öffentlich zu machen; eine Mitwirkung des beauftragten Rechtsanwalts ist nicht erforderlich.
Es ist nicht überliefert, ob Königin Johanna ihren Beichtvater Nepomuk von seiner Schweigepflicht entbunden hat. Aber selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte Nepomuk auch weiterhin geschwiegen, da das Beichtgeheimnis nicht der Dispositionsbefugnis der Beichtenden unterliegt.
Autor: Rechtsanwalt Dr. Hubert W. van Bühren, Köln
ZAP 7/2016, S. 327 – 328