Die Existenz mehrerer Anrechnungsvorschriften im RVG zieht es nach sich, dass im Laufe des Mandats mehrere Anrechnungsvorschriften nacheinander eingreifen können.
Beispiel 2:
Der Rechtsanwalt verdient im Rahmen eines vorgerichtlichen Vertretungsmandats zunächst die Geschäftsgebühr, betreibt dann das selbstständige Beweisverfahren und vertritt den Mandanten in dem sich hieran anschließenden Rechtsstreit.
Hier kommt die Anwendung folgender Anrechnungsvorschriften in Betracht:
- die (teilweise) Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die im selbstständigen Beweisverfahren anfallende Verfahrensgebühr nach Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG;
- die (volle) Anrechnung der im selbstständigen Beweisverfahren angefallenen Verfahrensgebühr auf die im Rechtsstreit erster Instanz entstehende Verfahrensgebühr nach Vorbem. 3 Abs. 5 VV RVG.
Nach wohl überwiegender Auffassung in der Rechtsprechung ist auch bei einer mehrfachen Anrechnung die Anrechnung in vollem Umfang vorzunehmen (BGH AGS 2010, 521 = JurBüro 2011, 80; OLG Köln AGS 2009, 476; OLG Stuttgart RVGreport 2009, 100 [Hansens] = AGS 2008, 384; OLG Hamm RVGreport 2015, 102 [Ders.] = AGS 2014, 453 = AnwBl 2015, 220 m. Anm. N. Schneider = zfs 2015, 168). Dies wird damit begründet, dem Wortlaut der Anrechnungsvorschriften könne nicht entnommen werden, infolge einer zuvor erfolgten Anrechnung sei nur noch der verbleibende Restbetrag auf die Verfahrensgebühr anzurechnen. Dies wirkt sich in der Praxis wie folgt aus.
Beispiel 3:
Rechtsanwalt R hat für den Mandanten zunächst im Rahmen eines Vertretungsmandats mit der Gegenseite korrespondiert, die gegen den Mandanten eine Kaufpreisforderung über 9.000 EUR nebst Nebenforderungen geltend gemacht hat. Die Gegenseite hat dann gegen den Mandanten über diese Forderung beim Zentralen Mahngericht Berlin-Brandenburg – dem AG Berlin-Wedding – einen Mahnbescheid erwirkt. Auftragsgemäß legt Rechtsanwalt R gegen den Mahnbescheid Widerspruch ein. Nach Eingang der Anspruchsbegründung hat das Mahngericht die Sache an das im Mahnantrag bezeichnete Streitgericht, das LG Potsdam, abgegeben. Dort erwirkt Rechtsanwalt R nach streitiger Verhandlung ein die Klage abweisendes Endurteil.
Für die vorgerichtliche Vertretung ist dem Rechtsanwalt R bei – unterstellt – durchschnittlichen Umständen i.S.v. § 14 Abs. 1 RVG eine 1,3 Geschäftsgebühr nach Nr. 2300 VV RVG angefallen. Die Vertretung des Antragsgegners im Mahnverfahren hat eine 0,5 Verfahrensgebühr nach Nr. 3307 VV RVG ausgelöst. Im Streitverfahren hat der Rechtsanwalt R eine 1,3 Verfahrensgebühr nach Nr. 3100 VV RVG jedenfalls für die Wahrnehmung des Verhandlungstermins (s. Nr. 3101 Nr. 1 VV RVG) sowie eine 1,2 Terminsgebühr nach Nr. 3104 VV RVG ebenfalls für die Wahrnehmung des Termins verdient. Diesen Gebühren sind noch jeweils die Auslagen hinzuzurechnen.
Ferner sind die Anrechnungsvorschriften der Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG (Teilanrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr für das Mahnverfahren) und der Anm. zu Nr. 3307 VV RVG (Anrechnung der Verfahrensgebühr im Mahnverfahren auf die Verfahrensgebühr des nachfolgenden Rechtsstreits) zu berücksichtigen. Dabei ist die Gebührenanrechnung in beiden Fällen mit dem vollen Anrechnungsbetrag vorzunehmen.
Danach wird der Rechtsanwalt R dem Mandanten folgende Berechnungen erteilen:
- Außergerichtliche Vertretung:
1. |
1,3 Geschäftsgebühr, Nr. 2300 VV RVG (Wert: 9.000 EUR) |
659,10 EUR |
2. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG |
20,00 EUR |
3. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG |
+129,03 EUR |
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Summe: |
808,13 EUR |
1. |
0,5 Verfahrensgebühr, Nr. 3307 VV RVG (Wert: 9.000 EUR) |
253,50 EUR |
|
hierauf gem. Vorbem. 3 Abs. 4 S. 1 VV RVG anzurechnen: |
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0,65 Geschäftsgebühr aus I. 1. |
329,55 EUR |
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Rest: |
0,00 EUR |
2. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG |
20,00 EUR |
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berechnet aus der Verfahrensgebühr zu 1. vor der Anrechnung |
3. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG |
3,80 EUR |
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Summe: |
23,80 EUR |
1. |
1,3 Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV RVG (Wert: 9.000 EUR) |
659,10 EUR |
|
hierauf gem. Anm. zu Nr. 3307 VV RVG anzurechnen: |
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0,5 Verfahrensgebühr aus II. 1. |
- 253,50 EUR |
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Rest: |
405,60 EUR |
2. |
1,2 Terminsgebühr, Nr. 3104 VV RVG (Wert: 9.000 EUR) |
608,40 EUR |
3. |
Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV RVG |
20,00 EUR |
|
Zwischensumme: |
1.034,00 EUR |
4. |
19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV RVG |
+ 196,46 EUR |
|
Summe: |
1.230,46 EUR |
Damit errechnet sich ein Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts gegen seinen Auftraggeber i.H.v. insgesamt (808,13 EUR + 23,80 EUR + 1.230,46 EUR =) 2.062,39 EUR.