Eine solche Methode wäre bei Verkehrssicherungspflichtverletzungen die sog. Kosten-Nutzen-Analyse, um den Umfang der erforderlichen Sorgfalt zu bestimmen. Der US-Amerikanische Richter Learned Hand hat bereits 1947 zur Bestimmung des Fahrlässigkeitsvorwurfs die Auffassung vertreten, dass fahrlässig derjenige handelt, der sich scheut, Risikovermeidungskosten zu investieren, die geringer sind, als der Erwartungswert entsprechender Schäden.
Der Erwartungswert des Schadens stellt vereinfacht die Höhe des möglichen Schadens bei seinem Eintritt multipliziert mit der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts dar (vgl. MüKo-BGB/Grundmann, 6. Aufl., § 276 Rn 62 m.w.N.). Diese ökonomische Analyse des Rechts ist auch im deutschen Recht anwendbar (vgl. Palandt/Grüneberg, a.a.O., § 276 Rn 20; BeckOK-BGB/Unberath § 276 Rn 25; aber strittig, vgl. MüKo-BGB/Grundmann, 6. Aufl., § 276 Rn 60 ff. m.w.N.).
Sicher hängt der Erwartungswert des Schadens von Schätzungen ab, das sollte aber dennoch kein Grund sein, entsprechende Ausführungen nicht zu machen, denn wer über Schätzgrundlagen diskutiert, weiß wenigstens worüber er diskutiert, statt weitgehend substanzlos auf das Urteil des fiktiven Dritten zu vertrauen. Das setzt im Prozess, u.a. auch mit vorgerichtlich eingeholten Sachverständigengutachten die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Vertretern anderer Wissenschaften (Volkswirte, Betriebswirte, Mathematiker, Statistiker) voraus, die in der derzeitigen Praxis kaum beobachtet wird.
Kuhn kommt in ihrer Dissertation aus dem Jahre 2004 (Der effizientorientierte Fahrlässigkeitsbegriff in der Rechtsprechung westlicher Staaten, S. 76 ff.) zu dem Ergebnis, dass der BGH die erforderlichen Sorgfaltsvorkehrungen an das Ausmaß der Gefahr knüpft und es in den meisten dieser Fälle um die Frage geht, ob der Handelnde bestimmte finanzielle Aufwendungen zur Schadensvorsorge hätte treffen müssen. Lägen die getroffenen Maßnahmen bzw. aufgewendeten Kosten unterhalb des Umfangs, den die drohende Gefahr, die sich aus der Höhe des möglichen Schadens und der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts zusammensetze, gebiete, so sei Fahrlässigkeit gegeben.
Das stellt die Frage, wie die Höhe des möglichen Schadens und die Wahrscheinlichkeit seines Eintritts intersubjektiv diskutierbar gemacht werden können. Aus dem weltweit am weitest verbreiteten Lehrbuch zur Volkswirtschaftslehre von Mankiw/Taylor (Gesamtauflage ca. 5 Millionen; Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 5. Aufl., S. 284 ff.) lässt sich folgendes Beispiel entnehmen:
Wie viel zählt ein Menschenleben?
Wäre es aus Gründen der Verkehrssicherungspflicht erforderlich, an einer Kreuzung, die durch Stopp- bzw. Vorfahrtsschild geregelt ist, eine Ampelanlage aufzubauen? Aus anderen Fällen weiß man, dass sich dadurch die Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Unfalls von 1,6 % auf 1,1 % reduziert. Die Ampelanlage kostet allerdings 10.000 EUR. Diese Kosten können dann in eine rationale Argumentation gebracht werden, wenn auf der anderen Seite der Wert eines Menschenlebens taxiert wird.
Die Annahme, dass ein Menschenleben unbezahlbar ist, führt nicht weiter, denn wir treffen tagtäglich Entscheidungen, die unser Leben riskieren, um nur ein wenig Zeit oder Geld einzusparen. Es sind daher verschiedene Berechnungsformen für den Wert eines Menschenleben rational nachvollziehbar – z.B. auf welches Lebenseinkommen kommt der durchschnittliche Mensch, wie hoch ist die durchschnittlich vereinbarte Lebensversicherungssumme für den Todesfall, etc.
Aber wichtig ist, dass der Vorteil der Ampelanlage 0,5 % beträgt und eine Entscheidung dann rational nachvollziehbar ist, wenn der Erwartungswert des Nutzens die Kosten übersteigt. Der Erwartungswert des Nutzens beträgt 0,5 % x Wert eines Menschenlebens. Wenn dieser höher als die Kosten (10.000 EUR) sein muss, bedeutet das, dass der Wert eines Menschenlebens höher als 10.000 EUR:0,005 (0,5 %) sein muss (höher als 2.000.000 EUR).
Damit bleibt die Entscheidung, ob es erforderlich ist, die Ampelanlage zu bauen, zwar nach wie vor subjektiv, aber sie wird nun intersubjektiv diskutierbar. Würde die Ampelanlage 50.000 EUR kosten, müsste man den Wert eines Menschlebens mit 10.000.000 EUR einstellen. Das aber wird man kaum annehmen können.
Das Beispiel sollte lediglich zeigen, dass die aus anderen Disziplinen bekannten Kosten-Nutzen-Erwägungen durchaus auch in der Rechtspraxis verwendet werden und die eigene Entscheidung rational nachvollziehbar machen können.
Hinweis:
Die entsprechende Kosten-Nutzen-Analyse darf allerdings nie dazu führen, dass die Anforderungen, die allgemein üblich sind oder den anerkannten Regeln der Technik entsprechen, unterschritten werden (vgl. BGH, Urt. v. 23.7.2009 – VII ZR 164/08, NJW-RR 2009, 1467). Freilich lässt sich in der Rechtsprechung auch eine weitgehende Irrelevanz der nötigen Kosten nachweisen (vgl. BGH, Urt. v. 29.11.1983 – VI ZR 117/82, NJW 1984, 801, wo aber immerhin eine empirische Basis zur Häufigkeit vorlag).