I. "law in books" versus "law in action"
Zitat
"Wie tauglich ist ein Familienrichter, dessen eigene Ehe mit einer Kampfentscheidung zu Ende gegangen ist? Auf wessen Seite steht ein Mietrichter, der mehrere Wohnhäuser geerbt hat? Beurteilt ein Verkehrsrichter, der mit dem Porsche vorfährt, einen Unfall anders, als sein Kollege, der immer mit dem Fahrrad zum Dienst kommt? Oder anders: Lässt sich überhaupt verhindern, dass Biografie und Weltanschauung des Richters auf seine Urteile durchschlagen?"
Wer sich – wie Lamprecht (Die Lebenslüge der Juristen, S. 9) – diese Fragen stellt, kennt bereits die Antwort. Selbstverständlich beeinflusst die eigene Biografie und Weltanschauung das richterliche Ergebnis. Es ist eine triviale Erkenntnis: Bereits die Wahrnehmung hängt von den jeweils individuellen – auch unbewussten – Wünschen, Motiven, Befürchtungen, Erfahrungen, also dem Prisma der eigenen Persönlichkeit ab, bevor es zu einer bewussten Verarbeitung oder Entscheidung kommt (vgl. Altavilla, Forensische Psychologie, Bd. II, Die Psychologie der Strafprozessbeteiligten, S. 213).
Die richterliche Subjektivität als (mit-)entscheidender Faktor ist jedem Praktiker bekannt, wird aber nicht kritisch genug hinterfragt und von der Anwaltschaft nicht genügend beachtet. Vor einem halben Jahrhundert (1966) hat Hainmüller in einer bemerkenswerten Arbeit zum Anscheinsbeweis und zur Fahrlässigkeitstat im "heutigen deutschen Schadenersatzprozeß" mitgeteilt, dass richterliche Überzeugung in vielem letztlich irrational und von der persönlichen Veranlagung und Einstellung des jeweiligen Gerichts abhängig ist. Zum Nachweis hat er Fundstellen bei Baumbach/Lauterbach, Wassermeyer, Drefahl und Kollhosser genannt (vgl. Hainmüller, Der Anscheinsbeweis und die Fahrlässigkeitstat im heutigen deutschen Schadensersatzprozeß, S. 38 m.w.N.).
Triviale Beispiele offenbaren den Widerspruch zwischen dem "law in books" und dem "law in action". Nach ständiger Rechtsprechung soll es für die Auslegung einer Willenserklärung auf den objektiven Empfängerhorizont ankommen, bei der Frage eines Sittenverstoßes auf das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden und bei der groben Fahrlässigkeit auf dasjenige, was jedem einleuchtet. Faktisch entscheidet der subjektive Richterhorizont, das Anstandsgefühl des konkret zur Entscheidung berufenen Richters oder dasjenige, was dem Richter einleuchtet oder auch nicht. Die vermeintlich objektiv bestehende Entscheidungsgrundlage reduziert sich praktisch auf die Meinung eines einzelnen Richters oder Richterkollegiums.
Das ist bedenklich. Denn das Grundgesetz hat den Rechtsstaat, nicht den Richterstaat erschaffen (vgl. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., S. 801). Aktuell wird dies zu wenig beachtet. Wenn das nämlich allgemein bekannt und/oder beachtet werden würde, ergäben sich vermutlich Handlungspflichten, mindestens aber Beobachtungspflichten des Gesetzgebers. Teilweise findet stattdessen ein völliges Ignorieren und Verkennen von verfahrenspsychologischen Wahrheiten statt, wie bei Einführung der Anhörungsrüge zum iudex a quo. Es muss zudem befremden, wenn Richter des Bundesgerichtshofs der Rechtsprechung eine bornierte Hemmung, selbst gängigste Erkenntnisse der popularisierten Kommunikationswissenschaft zur Kenntnis zu nehmen, attestieren (vgl. Fischer/Krehl, Strafrechtliche Revision, "Vieraugenprinzip", gesetzlicher Richter und rechtliches Gehör, StV 2012, 550, 555).
Es ist richtig, dass es keinen (alleinverbindlichen) Einsatz der Vernunft und keinen Richter gibt, der nicht durch seine Persönlichkeit geprägt ist. Es ist aber falsch anzunehmen, dass dies durch die Professionalität der Berufsausübung und Einbettung der konkreten Entscheidung in eine Entscheidungskette als ausgeglichen gilt (a.A. Lechner/Zuck, BVerfGG, 7. Aufl., Einl. Rn 40).
Hinweis:
In der Praxis ist folgendes Massenphänomen zu beobachten: Genauso wie der Richter seine Sicht der Dinge als Ansicht eines objektiven Dritten lediglich behauptet, stellen Kläger- und Beklagtenvertreter ihre jeweilige Ansicht als objektive Sicht dar. Damit steht nur Behauptung gegen Behauptung, ohne dass die jeweilige Behauptung durch objektive Kriterien unterstützt wird. Im Sinne einer optimalen Interessenvertretung sollte der anwaltliche Praktiker Mittel und Wege einsetzen, um der richterlichen Subjektivität objektive Argumente entgegen zu setzen. Das erfolgt in der Praxis zu selten.
II. Der unsichtbare Dritte in der Rechtsprechung
Unter den Rechtsunterworfenen dürfte Einigkeit bestehen, dass richterliche Subjektivität einerseits erwünscht ist, um dem Einzelfall gerecht zu werden, andererseits aber ebenso problematisch ist, weil die Grenze zur Weltfremdheit oder Willkür schnell überschritten sein kann.
Methodisch soll die Subjektivität der Rechtsfindung vermieden werden, indem bestimmte Tatbestandsmerkmale objektiv formuliert werden. Das geschieht durch die Rechtsfigur des objektiven Dritten. Dieser objektive Dritte begegnet uns teils als Tatbestandsmerkmal, z.B. als "ordentlicher Kaufmann" in § 347 HGB, als "ordentlicher Geschäft...