Nehmen wir einmal an, wir wären irgendwo in Deutschland im Jahre 1805 und Sie wären Duellsekundant. Das Duell ist vor dem West-Tor Ihrer Stadt am nächsten Morgen um 4 Uhr angesetzt. Am Vorabend besucht Sie der Sekundant der anderen Partei und bittet Sie, den Konflikt durch Rechtsentscheid zu lösen: Wie Sie sicher wissen, hat Napoleon letztes Jahr den Code civil“ erlassen. Das ist die Verwirklichung der Idee von Rousseau und der Französischen Revolution, dass Recht“ nicht mehr der willkürliche Wille eines feudalen Herrschers ist, sondern ein contrat social“ zwischen uns Bürgern. Streitigkeiten werden nicht mehr mit individueller Macht gelöst, sondern generell durch Recht entschieden. Es soll nicht mehr der gewinnen, der schneller oder treffsicherer schießt, sondern der, der seinen Rechtsanspruch durchsetzen kann!“
Sie hören sich an, was der andere Sekundant erzählt, und weisen es von sich: Diesem neumodischen Kram traue ich nicht. Ich vertraue auf das, was sich über Jahrtausende bewährt hat: Wenn jemand in seiner Ehre verletzt wird, wird die Sache im Duell gelöst. Wir sehen uns morgen um 4 Uhr!“
Das Duell findet statt und Ihr Mandant erledigt die Sache kurz und elegant. Sie fühlen sich gut, aber leider nur noch wenige Jahre. Das Recht setzt sich als Konfliktlösungsform gegenüber der Macht durch und in weniger als zehn Jahren ändert sich Ihre Einkommensgrundlage.
Warum erzähle ich das? Weil es Indizien dafür gibt, dass wir uns im Moment inmitten eines neuen Paradigmenwechsels befinden: Wie seinerzeit das Recht die Macht als Konfliktlösungsmittel abgelöst hat, ist es zzt. der Interessenausgleich – unter Juristen hauptsächlich unter dem Namen Mediation bekannt –, der das Recht als Konfliktlösungsmittel ablöst. Anstatt die Lösung in einem vorgeschriebenen Code zu suchen, der bestimmt, was richtig und was falsch ist, gibt es immer mehr Menschen, die nicht mehr Recht“ haben wollen. Sie gehen davon aus, dass sich eine rechtliche Lösung ökonomisch nicht lohnt, für sie nicht stimmig ist oder keine kompetente Herangehensweise darstellt.
Sie glauben das nicht? Wie kommt es dann, dass die Zugänge zu den erstinstanzlichen Gerichten zwischen 1995 und 2015 um 37 % zurückgegangen sind (Tombrink BRAK-Mitteilungen 2017, 152 f.) und dass die Rechtsschutzversicherungen in den letzten zehn Jahren schon Hunderttausende von Streitigkeiten mit Telefonmediation“ dem Rechtsmarkt entzogen haben? Adolphsen spricht von 60 Millionen Fällen, die bereits von eBay durch rechtsferne“ Online Dispute Resolution (ODR – Online-Streitbeilegung) gelöst worden sind (Adolphsen BRAK-Mitteilungen 2017, 147 f.).
Eine ähnliche Verschiebung von Recht“ zu Effizienz“ und Erfolg“ stelle ich auch in Großkanzleien fest: Von 100 Anwälten arbeiten vielleicht noch fünf Anwälte als Litigator“. 95 Kollegen sind im Kern Unternehmensberater im Schatten des Rechts“: Unsere Kunden interessieren sich nicht mehr dafür, was richtig oder falsch ist, sondern dafür, was effizient ist, und das ist fast nie die Schlacht vor dem Gericht, sondern eine ökonomisch ausgewogene Lösung, wo Recht eher eine untergeordnete Rolle spielt.“
Im jährlichen JUVE-Ranking der besten Anwaltskanzleien Deutschlands geht es daher nicht um die rechtlich beste Lösung, sondern um Umsatz pro Kanzlei und Berufsträger (UBT). Eidenmüller hat es mit seinen Überlegungen zu Effizienz als Rechtsprinzip: Möglichkeiten und Grenzen der ökonomischen Analyse des Rechts“ zum Professor in Oxford gebracht. Kollegen haben vor 20 Jahren in der Schweiz die erste post-rechtliche, primär ökonomisch denkende Steuerberatungsgesellschaft gegründet und Ponschab die erste reine Mediationskanzlei in Deutschland. Beide sind außergewöhnlich erfolgreich.
Woher kommt das? Um das zu erklären, ist es vermutlich sinnvoll, sich etwas mit der evolutionären Entwicklung der Gesellschaftsformen zu befassen. Ich verweise hier auf Jean Gebser, Lawrence Kohlberg, Clare Graves, Robert Keagan, Jane Loevinger, Don Beck, Christopher Cowan, Ken Wilber, Y.N. Harari und Josef Duss-von Werdt.
Die erste Form, in der der Homo sapiens in seiner Zeit als Jäger und Sammler zusammenlebte, war die Schar. Hier ging es primär ums Überleben oder Sterben. Mit dem Übergang zum Ackerbau und der Viehzucht formten die Scharen Stämme. Es wurde zwischen dazugehörig“ und fremd“ unterschieden. Wenn jemand aus dem Stamm ausgeschlossen wurde, war er vogelfrei“. Ein Stamm setzte sich gegen die anderen durch und dem tribalen System folgte das feudale. Die stärkeren Karolinger oder Habsburger setzten sich gegenüber den schwächeren Stämmen durch. Die feudalen Systeme wurden nach der französischen Revolution beseitigt: Es sollte in einem Streit nicht mehr der obsiegen, der stärker ist, sondern der, der Recht“ hat (konformistische Gesellschaft). Mit der Verbreitung der industriellen Revolution folgte die Meritokratie: Wir folgen nicht mehr dem, der etwas richtig tut, sondern dem, der es erfolgreich tut. Dies führte zu einer Gesellschaft der ökonomisch Erfolgreichen und Erfolglosen. D...