Der BGH (Beschl. v. 19.11.2020 – 4 StR 431/20, NStZ 2021, 186 = StraFo 2021, 77 = StRR 1/2021, 20 m. Anm. Stehr) nimmt zur Anwendung des § 10 EGStPO Stellung. Dieser ist durch das Gesetz zur Abmilderung der Folgen der COVID-19-Pandemie im Zivil-, Insolvenz- und Strafverfahrensrecht vom 27.3.2020 (BGBl I, S. 569) eingeführt worden. Er bestimmt, dass unabhängig von der Dauer der Hauptverhandlung der Lauf der in § 229 Abs. 1 und 2 StPO genannten Unterbrechungsfristen gehemmt ist, solange die Hauptverhandlung aufgrund von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus (COVID-19-Pandemie) nicht durchgeführt werden kann, längstens jedoch für zwei Monate; diese Fristen enden frühestens zehn Tage nach Ablauf der Hemmung. Beginn und Ende der Hemmung stellt das Gericht durch unanfechtbaren Beschluss fest.
In dem vom BGH (NStZ 2021, 186 = StraFo 2021, 77 = StRR 1/2021, 20) entschiedenen Fall sollte die Hauptverhandlung in einem beim LG Bielefeld anhängigen Verfahren ab 13.3.2020 regulär nach § 229 Abs. 1 StPO bis zum 31.3.2020 unterbrochen und anschließend fortgesetzt werden. Am 28.3.2020 berichtete eine Schöffin dann dem Vorsitzenden, dass ihr Ehemann plötzlich innerhalb der nächsten zwei Wochen am Herzen operiert werden müsse und die Ärzte ihr rieten, zwei Wochen vor und nach der Operation eine Ansteckung mit dem Coronavirus unbedingt zu vermeiden. Die Hauptverhandlung wurde dann ohne weitere erkennbare Veranlassungen erst am 30.4.2020 fortgesetzt. Erst an diesem Tag wurde ein Beschluss nach § 10 EGStPO verkündet, dass die Unterbrechungsfrist vom 29.3. bis zum 29.4.2020 gehemmt war. Die Revision des Angeklagten richtete sich dagegen, dass dieser Beschluss nicht innerhalb der Dreiwochenfrist ergangen war, sowie, dass eine nicht unmittelbare Person der Hauptverhandlung geschützt werden sollte.
Die Revision hatte keinen Erfolg. Der BGH (NStZ 2021, 186 = StraFo 2021, 77 = StRR 1/2021, 20) legt in der recht knapp begründeten Entscheidung dar, dass der Umstand, dass das Landgericht den Beginn der Hemmung nicht innerhalb der dreiwöchigen Unterbrechungsfrist des § 229 Abs. 1 StPO festgestellt habe, keinen Rechtsverstoß darstelle. Die Hemmung des § 10 Abs. 1 S. 1 EGStPO trete kraft Gesetzes ein. Der Feststellungsbeschluss habe nur insofern konstitutive Bedeutung, als er den Beginn und das Ende der Hemmung unanfechtbar feststelle (vgl. zu § 229 Abs. 3 StPO (BGH NStZ 1992, 550; NStZ-RR 2016, 178). Es begegne auch keinen rechtlichen Bedenken, dass das LG einen Hemmungsgrund gem. § 10 Abs. 1 EGStPO angenommen hat. Aufgrund der in § 10 Abs. 1 S. 2 EGStPO normierten Unanfechtbarkeit komme mit Blick auf § 336 S. 2 Alt. 1 StPO eine Richtigkeitsprüfung über den Willkürmaßstab hinaus nicht in Betracht; sie sei auch verfassungsrechtlich nicht geboten (vgl. zur Parallelvorschrift des § 229 Abs. 3 S. 2 StPO; BGH NStZ 2016, 688 = StraFo 2016, 416). Anhaltspunkte dafür, dass die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 S. 1 EGStPO für eine Hemmung überhaupt nicht vorgelegen haben, seien nicht ersichtlich. Die weitgehende Kontaktvermeidung des Ehemannes der Schöffin aufgrund einer ärztlichen Empfehlung stelle eine Schutzmaßnahme zur Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem SARS-CoV-2-Virus dar. Die Schutzmaßnahme müsse nicht gerichtlich oder gesundheitsbehördlich angeordnet oder empfohlen worden sein. § 10 EGStPO enthalte insoweit keine Einschränkung. Es genüge, wenn sie nachvollziehbar der Verhinderung der Verbreitung von Infektionen mit dem Corona-Virus dienen solle. Dies sei hier aufgrund der ärztlichen Empfehlung der Fall. Maßnahmen, die eine weitere Durchführung der Hauptverhandlung verhindern, seien auch solche, die dem Schutz von Personen dienen, die zur Risikogruppe gehören, wie beispielsweise ältere Personen, Personen mit Grunderkrankung oder einem unterdrückten Immunsystem (vgl. BT-Drucks 19/18110, S. 32 f.). Dass die Schöffin nur mittelbar durch die Schutzmaßnahme betroffen war, sei ebenfalls unerheblich. Ein Hindernis für die Durchführung der Hauptverhandlung liegt auch vor, wenn es nur mittelbar auf Schutzmaßnahmen beruhe (vgl. BT-Drucks 19/18110, S. 33).
Hinweis:
Die Entscheidung entspricht Sinn und Zweck des (neuen) § 10EGStPO. Ob sie allerdings auch mit der Konzentrationsmaxime in Einklang steht bzw. ggf. stehen wird, ist fraglich. Denn wendet man die Grundsätze des BGH (Beschl. v. 18.11.2020 – 4 StR 118/20, StRR 2/2021, 14) an (s. vorstehend III. 3. a), kann es zu sehr langen Hauptverhandlungen kommen.