1. BVerfG zu Informationen außerhalb der Bußgeldakte
Seit längerer Zeit wird in der verkehrsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur darüber gestritten, ob der Betroffene zu seiner Verteidigung Zugang zu außerhalb der Akten befindlichen Informationen haben muss, um sich sachgerecht zu verteidigen und welche Auswirkungen es hat, wenn ihm dieser Zugang nicht gewährt wird. Das spielt insb. eine Rolle, wenn es um die Frage der Überprüfbarkeit der Ergebnisse einer Messung mit einem standardisierten Messverfahren geht (Stichwort: Rohmessdaten; vgl. dazu Burhoff/Niehaus, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn 222 ff.). Die Oberlandesgerichte, allen voran das OLG Bamberg, hatten hier einen Informationsanspruch des Betroffenen weitgehend verneint. In ihrer ablehnenden Haltung haben sie sich auch nicht durch verfassungsrechtliche Rechtsprechung aus dem Saarland beirren lassen (vgl. insb. OLG Bamberg NStZ 2018, 724 = StRR 7/2018, 23 = VRR 7/2018, 14). Nun liegt mit dem Beschluss des BVerfG (v. 12.11.2020 – 2 BvR 1616/18, NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41 m. Anm. Krenberger; dazu a. Niehaus VRR 1/2021, 4 ff.; demnächst a. Niehaus ZAP 8/2021) aber endlich eine Entscheidung vor, die hoffentlich zu einer zumindest teilweisen Änderung der Praxis führen wird.
Mit seinem Beschluss hat das BVerfG (NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41) einen Beschluss des OLG Bamberg (v. 19.6.2018 – 3 Ss OWi 672/18), mit dem eine Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen ein Urteil wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung verworfen worden war, aufgehoben. Der Betroffene hatte zunächst im Rahmen des Verwaltungsverfahrens u.a. Einsicht in die Lebensakte des verwendeten Messgeräts PoliScan Speed M1 des Herstellers Vitronic, den Eichschein und die sog. Rohmessdaten verlangt. Diese Informationen befanden sich nicht in der Bußgeldakte. Die Bußgeldstelle gewährte Einsicht in die Bußgeldakte, die neben dem Messprotokoll und dem Messergebnis auch den Eichschein des eingesetzten Messgerätes enthielt. Die Bedienungsanleitung zu dem verwendeten Messgerät wurde dem Beschwerdeführer als Datei auf der Internetseite der Bußgeldstelle zugänglich gemacht. Bezüglich der übrigen angefragten Informationen teilte die Behörde mit, dass diese nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien und nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt würden. Einen Antrag des Betroffenen auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) verwarf das Amtsgericht dann als unzulässig, da der Betroffene nicht mehr beschwert sei. Aufgrund seines Einspruchs werde nunmehr im gerichtlichen Bußgeldverfahren eine umfassende Prüfung erfolgen, ob der Betroffene die ihm vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung tatsächlich begangen habe. In der Hauptverhandlung hat das Amtsgericht die Anträge des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und gerichtliche Entscheidung gem. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 238 Abs. 2 StPO zurückgewiesen und ihn verurteilt. Das OLG Bamberg hat seine Rechtsbeschwerde gegen die amtsgerichtliche Verurteilung verworfen.
Das BVerfG (NJW 2021, 455 = NZV 2021, 41) sieht das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG verletzt. Auf folgende Punkte aus der Entscheidung des BVerfG ist hinzuweisen (vgl. a. Burhoff VA 2021, 33 ff.).
- Das BVerfG (a.a.O.) bestätigt die im Falle eines standardisierten Messverfahrens nach der obergerichtlichen Rechtsprechung reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht der Tatgerichte (vgl. Burhoff/Burhoff, a.a.O., Rn 2310 ff.). Diese Vorgehensweise der Fachgerichte im Ordnungswidrigkeitenverfahren sei nicht zu beanstanden. Hierdurch werde gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüft werden muss. Dem geringeren Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeiten gerade im Bereich von massenhaft vorkommenden Verkehrsverstößen könne durch Vereinfachungen des Verfahrensgangs Rechnung getragen werden.
- Aber: Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt nach Auffassung des BVerfG grds. auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Wenn der Betroffene Zugang zu Informationen begehrt, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden, um sich Gewissheit über seiner Entlastung dienende Tatsachen zu verschaffen, ist ihm dieser Zugang grds. zu gewähren.
- Dies bedeutet – so das BVerfG (a.a.O.) – allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist in Hinblick auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen eine R...