I. Einleitung
Nach etwas über einem Jahr der aktiven Nutzungspflicht des elektronischen Rechtsverkehrs (ERV) dürften sich mittlerweile auch alle wenig technikaffinen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte an die Nutzung des besonderen Anwaltspostfachs (beA) gewöhnt haben. Die aktuelle Berichterstattung über die technischen Fortschritte wird bei vielen jedoch neue Unruhe ausgelöst haben. Seit Ende November 2022 ist der von OpenAI entwickelte Chatbot ChatGPT für die allgemeine Nutzung freigeschaltet. Durch die zahlreichen veröffentlichten Beiträge wurde vielen Juristen erstmals bewusst, welche Potenziale die Nutzung von Large Language Models (LLMs), die auch als Large Generative AI Models (LGAIMs) oder große Sprachmodelle bezeichnet werden, birgt.
Joshua Browder, der CEO of DoNotPay, kündigte im Januar 2023 an, dass am 22.2.2023 ein Roboter das erste Mal vor einem US-Gericht auftreten werde (Tweet @jbrowder1 vom 21.1.2023, 3:46 a.m. [16.2.2023]). DoNotPay bezeichnet sich selbst als den ersten Robo-Anwalt der Welt ( https://donotpay.com/ [16.2.2023]). Derartige Ankündigungen hinterlassen den Eindruck, dass kurzfristig massive Veränderungen anstehen. Der nachfolgende Beitrag soll Klarheit darüber vermitteln, inwiefern sich der anwaltliche Arbeitsalltag durch sog. Legal-Tech-Anwendungen kurz- und mittelfristig verändern wird. Der Beitrag gibt die persönliche Meinung der Autorin wieder.
II. Was sind Legal Tech und Künstliche Intelligenz?
Immer wieder gibt es Diskussionen darüber, dass Legal Tech und Künstliche Intelligenz (KI) unseren Arbeitsalltag massiv verändern werden. Aber was bedeuten diese Begriffe überhaupt? Feststehende Definitionen, an denen wir Juristen uns so gerne orientieren, gibt es für beide Begriffe nicht.
1. Legal Tech
In Bezug auf Legal Tech wird vielfach Prof. Oliver R. Goodenough zitiert, der bereits 2015 eine Einteilung in Legal Tech 1.0, 2.0 und 3.0 vornahm:
- Er beschreibt Software, die Anwender innerhalb des aktuellen Rechtssystems unterstützt und befähigt, als Legal Tech 1.0.
- Unter Legal Tech 2.0 versteht man Rechtsdienstleistungen, die Handlungen an Stelle des Menschen ausführen.
- Legal Tech 3.0 sind Lösungen, deren Nutzung zu einem radikalen Redesign oder einer Ablösung des aktuellen Rechtssystems führt (Goodenough, Legal Technology 3.0, Huffpost, 2.4.2015 geänd. 6.4.2015, www.huffpost.com/entry/legal-technology-30_b_6603658 [16.2.2023]).
Bei einer Zugrundelegung dieser Definition wird vielfach außer Acht gelassen, was das Ziel von Goodenoughs Veröffentlichung war: Er setzte sich mit dem disruptiven Potenzial der verschiedenen Anwendungen auseinander.
Hinweis:
Das Wort Disruption wird immer wieder im Zusammenhang mit Legal Tech verwendet. Disruptive Technologien ersetzen bereits bestehende, bislang erfolgreiche Technologien, Produkte oder Dienstleistungen völlig oder verdrängen sie vollständig vom Markt. Die eingangs zitierten Meldungen weckten bei einigen Lesern diffuse Ängste vor dem disruptiven Potenzial von Künstlicher Intelligenz (KI). Immer wieder erscheinen Veröffentlichungen, in denen die Ära der Robo-Anwälte angekündigt wird. Tatsächlich ist es so, dass die kurzfristigen Auswirkungen einer Technologie häufig überschätzt, ihre langfristigen Auswirkungen jedoch unterschätzt werden. Dieses Phänomen wird als „Amaras Gesetz” bezeichnet. Auch in Bezug auf den Einsatz von Legal Tech lässt sich diese Tendenz beobachten.
Im folgenden Beitrag wird unter Legal Tech der Technologieeinsatz mit juristischem Bezug zur Unterstützung einer genuin juristischen Tätigkeit verstanden. Es ist nicht notwendig, dass juristische Kenntnisse im engeren Sinne abgebildet werden (so Biallaß in: Ory/Weth, jurisPK-ERV Band 1, 2. Aufl. 2022, Kapitel 8 Rn 14, ab Rn 2 findet sich ein Überblick über die gängigen Definitionen).
Beispiel:
Deutlich wird dies an der Spracherkennungssoftware Dragon, die die automatisierte Konvertierung von Sprache zu Text ermöglicht. Die Standardversion ist keine Legal Tech, die speziell für die Erkennung juristischer Begriffe optimierte Version Dragon Legal schon (so zutreffend Yuan, in: Fateh-Moghadam/Zech (Hrsg.), Transformative Technologien, 153, 157).
2. Künstliche Intelligenz (KI)
Künstliche Intelligenz (KI) beschreibt ein Forschungsgebiet innerhalb der Informatik (Biallaß in: Ory/Weth, a.a.O., Kapitel 8 Rn 320). Dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für Künstliche Intelligenz (Gesetz über Künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union liegt ein sehr weiter KI-Begriff zugrunde.
Gemäß Art. 3 Nr. 1 KI-VO-E handelt es sich bei einem „System der Künstlichen Intelligenz” (KI-System) um eine Software, die mit einer oder mehreren der in Anhang I aufgeführten Techniken und Konzepte entwickelt worden ist und im Hinblick auf eine Reihe von Zielen, die durch Menschen festgelegt werden, Ergebnisse wie Inhalte, Vorhersagen, Empfehlungen oder Entscheidungen hervorbringen kann, die das Umfeld beeinflussen, mit dem sie interagieren. In Anhang I des KI-VO-E werden die maßgeblichen Techniken und Konzepte aufgelistet.