Zusammenfassung
Im Jahr 2022 wurden gut 2,4 Mio. Unfälle statistisch erfasst, wobei es zu rund 361.000 Verletzten und knapp 2.800 Verkehrstoten kam (vgl. Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 073 v. 24.2.2023). Seit der Jahrtausendwende bis zum Jahre 2021 werden Jahr für Jahr mehr als 120.000 Verkehrsunfallsachen vor deutschen Gerichten verhandelt (Statistisches Bundesamt, Fachserie 10, Reihe 2.1 2021). Sowohl in der außergerichtlichen wie auch in der gerichtlichen Tätigkeit sind Anwälte tätig, denen – wie sollte es auch bei Menschen anders sein – Fehler unterlaufen. Der nachfolgende Aufsatz soll die Kollegenschaft sensibilisieren und durch das Aufzeigen von Vorgehensweisen (der Verfasser ist seit mehr als 30 Jahren in der Unfallschadenregulierung für Geschädigte tätig) zu einer Minimierung des Haftungsrisikos beitragen.
I. Ausgangslage
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (vgl. BGH, Urt. v. 20.4.2023 – IX ZR 209/21, NJW 2023, 2195 ff.) und der Instanzgerichte (vgl. OLG Celle, Urt. v. 24.3.2010 – 3 U 222/09, NJW-RR 2011, 68-72; OLG Köln, Urt. v. 4.8.1999 – 5 U 74/99, juris) ist der Rechtsanwalt grundsätzlich zur allgemeinen, umfassenden und möglichst erschöpfenden Beratung des Auftraggebers verpflichtet. Unkundige muss er über die Folgen ihrer Erklärungen belehren und vor Irrtümern bewahren (BGH, NJW 2023, 2195). Anderes gilt nur, soweit der Mandant eindeutig zu erkennen gibt, "dass er des Rates nur in einer bestimmten Richtung bedarf" (BGH, a.a.O., 2195). Dieser weitgehenden Verpflichtung hat der Rechtsanwalt bei seiner Tätigkeit Rechnung zu tragen, was nicht nur den in Anspruch genommenen Versicherern, sondern gelegentlich auch den Gerichten missfällt.
II. Mandatsannahme
Bei Annahme eines Mandats in der Unfallschadenregulierung ist nicht nur die übliche Interessenkollisionsprüfung vorzunehmen. Während es in der Medizin selbstverständlich ist, dass bei einem Erstkontakt zunächst eine Anamnese erhoben wird, scheint dies in der anwaltlichen Tätigkeit nicht selbstverständlich.
1. Sachschaden
Die uns allen bekannten Rügen zur Aktivlegitimation zwingen bereits frühzeitig der Fragestellung nachzugehen, ob der Mandant Eigentümer des Kraftfahrzeugs oder Leasingnehmer ist, oder ob Sicherungseigentum besteht.
Im Hinblick auf die Hinweispflichten bei einer nicht bestehenden Vorfinanzierbarkeit des Schadens (vgl. BGH, Urt. v. 17.11.2020 – VI ZR 569/19, zfs 2021, 376 ff.; OLG Köln, Urt. v. 20.3.2012 – 15 U 170/11, DAR 2012, 333–335; OLG Brandenburg, Urt. v. 20.11.2012 – 6 U 36/12) ist selbstredend auch die finanzielle Situation des Mandanten aufzuklären. Unterbleibt dies und wird der Versicherer nicht frühzeitig auf die mangelnde Vorfinanzierbarkeit hingewiesen, so soll ein Verstoß gegen die Schadenminderungspflicht vorliegen (vgl. OLG Brandenburg, Urt. v. 20.11.2012 – 6 U 36/12, wo es wie folgt heißt: "Ein mittelloser Geschädigter verstößt gegen seine Schadenminderungspflicht, wenn er den Schädiger nicht unverzüglich auf die Gefahr eines hohen Nutzungsausfallschadens hinweist.").
Die Kenntnis über eine etwa bestehende Vollkaskoversicherung ist evident, um für den Mandanten bei Mithaftung die Grundsätze des Quotenvorrechts zur Anwendung zu bringen. Wer das auf § 67 Abs. 1 S. 2 VVG beruhende Quotenvorrecht des Geschädigten im Haftpflichtschaden nicht kennt oder beherrscht, wird bei absehbaren Quotierungsfällen unnötige Prozesse führen. Unter Berücksichtigung des Quotenvorrechts lassen sich bei Mithaftung bei den Schadenpositionen Reparaturkosten, Wertminderung und Sachverständigengebühren bzw. beim Totalschaden regelmäßig eine 100 %ige Regulierung herbeiführen.
Gleichzeitig können die etwaigen Rückstufungskosten des Mandanten in der Vollkaskoversicherung der Quote nach beim gegnerischen Haftpflichtversicherer als Schadenposition geltend gemacht werden (vgl. BGH, Urt. v. 19.12.2017 – VI ZR 577/16; BGH, Urt. v. 18.1.1966 – VI ZR 147/64; BGHZ 44, 382, 387). Da auch den Gerichten die Grundsätze des Quotenvorrechts häufig unbekannt sind, werden Quotierungsvergleiche vorgeschlagen und abgeschlossen, die zulasten des Geschädigten das Quotenvorrecht nicht berücksichtigen. Die anwaltliche Haftung liegt sodann auf der Hand.
2. Personenschaden
Bei Personenschäden ist es unabdingbar, den gesamten Versicherungsstatus zu erfragen. Hierzu gehört zwingend die Frage nach einer etwa bestehenden Fahrerschutzversicherung oder Forderungsausfallversicherung (vgl. Becker, zfs 2021, 424 ff. m.w.N.).
Ist dem Rechtsanwalt – wie nicht selten – die Fahrerschutzversicherung unbekannt, so wird er für einen Unfallverletzten bei Mithaftung oder Alleinhaftung nicht 100 % des Schadens durchsetzen, obwohl dies mit Hilfe der Fahrerschutzversicherung unschwer möglich ist. Möglicherweise klagt er die nicht regulierten 50 % ein und unterliegt, wodurch er weitere Kosten produziert. Eine entsprechende Haftung liegt sodann auf der Hand.
Bei der zunehmenden Anzahl von Fahrradunfällen ohne Kfz-Beteiligung wird der Anwalt bei ersichtlicher Vermögenslosigkeit des Schädigers möglicherweise von einer Titulierung abraten, weil der Mandant "nic...