Für den Nachweis eines qualifizierten Rotlichtverstoßes ist grundsätzlich eine exakte Messung erforderlich. Das bedeutet, dass die bloße gefühlsmäßige Schätzung eines Polizeibeamten i.d.R. nicht genügt (KG NZV 2002, 50; OLG Celle NZV 1994, 40; OLG Düsseldorf DAR 1997, 322; 2003, 85; OLG Hamm, Beschl. v. 29.1.1996 – 1 Ss OWi 103/96; s. aber BayObLG NZV 2002, 518), es sei denn, das amtsgerichtliche Urteil enthält zusätzliche Ausführungen darüber, wie der Polizeibeamte die Feststellung einer bestimmten, im Urteil genannten Rotlichtzeit getroffen hat und diese Messmethode hinsichtlich ihrer Beweiskraft bewertet (BayObLG NZV 2002, 518, OLG Hamm DAR 2008, 35 = VRR 2008, 112 = zfs 2008, 111; weiter OLG Hamm VRR 2009, 272 = VA 2009, 156; vgl. auch noch OLG Celle VRR 2012, 34 = DAR 2012, 34 = NZV 2012, 403; OLG Köln VA 2012, 103 = zfs 2012, 292 = DAR 2012, 271 = VRR 2012, 123 [Ls.]; AG Landstuhl VD 2011, 145). Entsprechendes gilt i.Ü. für sonstige zufällig anwesende Zeugen (OLG Hamm VRR 2010, 72 m. Anm. Deutscher = VA 2010, 17).
Wenn der Amtsrichter seine Überzeugung vom Vorliegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes auf die Entfernungsschätzungen von Zeugen, wie z.B. Polizeibeamte, stützt, bedarf es i.d.R. einer wertenden Auseinandersetzung mit Grundlagen und Beweiswert dieser Schätzung (OLG Köln zfs 2012, 292 = DAR 2012, 271 = VA 2012, 103 = VRR 2012, 123 [Ls.]). Die Rechtsprechung geht davon aus, dass zwar an die Feststellung von qualifizierten Rotlichtverstößen durch Polizeibeamte gerade bei längeren Beobachtungszeiten nicht zu hohe Anforderungen zu stellen sind, bei einer nicht gezielten Feststellung eines Rotlichtverstoßes bei einfachen Zeitschätzungen muss das Gericht aber weitere Indizien feststellen können, anhand derer sich die Schätzung der bereits verstrichenen Rotlichtzeit zur Zeit des Verstoßes abschätzen oder zumindest plausibel abgleichen lässt (AG Lüdinghausen VRR 2014, 475 = VA 2015, 46 = NZV 2015, 255).
Die Obergerichte sind auch gegenüber Zeitmessungen mit dem Sekundenzeiger einer handelsüblichen Armbanduhr und dem Messen der Rotphase durch Mitzählen, also "21, 22 ...", wegen der darin liegenden erheblichen Fehlermöglichkeiten kritisch (BayObLG DAR 1995, 496 = NZV 1995, 497 für einen "zufällig" beobachteten Rotlichtverstoß; KG NZV 1995, 240; OLG Hamm NZV 2001, 177 = zfs 2000, 513 = VA 2001, 29 m.w.N.; s. aber OLG Hamm NZV 2010, 42 = VRR 2009, 271 = VA 2009, 156; zur Messung mit geeichter Stoppuhr KG NZV 2002, 334). In der Regel wird auch eine solche Zeitmessung als nicht ausreichend angesehen. Das gilt insbesondere, wenn es sich nur um die zufällige Feststellung eines Rotlichtverstoßes handelt und bei der Feststellung einer Rotlichtzeit von sogar zwei Sekunden (OLG Hamm zfs 2000, 513 = VA 2001, 29 = NZV 2001, 177). Jedenfalls soll die Messung durch Zählen nur verwertbar sein, wenn die Zahl "22" vollständig ausgesprochen oder – bei stillem Zählen – genannt ist (OLG Köln VRS 106, 214). Auch muss ggf. ein ausreichender Sicherheitsabschlag gemacht werden (OLG Düsseldorf DAR 2003, 234; OLG Köln NJW 2004, 3439).
Hinweis:
In einer neueren Entscheidung hat das OLG Hamm (VRR 2009, 271 = VA 2009, 156 = NZV 2010, 41) die Verwertbarkeit einer Schätzung von Polizeibeamten an drei Voraussetzungen geknüpft:
- Der polizeiliche Zeuge muss zumindest in Gedanken gezählt haben ("21, 22 ... ").
- Die Rotlichtphase muss nach der auf diese Weise gewonnenen Schätzung zumindest bereits zwei Sekunden angedauert haben.
- Die Schätzung muss für das Rechtsbeschwerdegericht überprüfbar sein, nämlich durch Angaben im tatrichterlichen Urteil zur Messmethode, zum Ablauf des Rotlichtverstoßes sowie zur Entfernung des Fahrzeugs von der LZA bzw. ggf. von der Haltlinie.
Etwas anderes kann allerdings bei einer gezielten Rotlichtüberwachung gelten. Dann kann die auf der Zählung "21, 22, 23" beruhende Schätzung ausreichen, um einen Verstoß nach Nr. 132.3 BKatV festzustellen, da das Augenmerk des Überwachenden dann einzig auf die LZA gerichtet ist, so dass von einem geringeren Fehlerrisiko ausgegangen werden kann (OLG Düsseldorf NZV 2000, 134; OLG Hamm NStZ-RR 1996, 216 = VRS 91, 394; s. aber OLG Hamm NZV 2010, 42 = VRR 2009, 271 = VA 2009, 156 – 21, 22 genügt). Bei einer gezielten Rotlichtüberwachung kann für die Feststellung der Rotlichtzeit die Zählung von nur "21, 22", die sonst i.d.R. nicht ausreicht, ggf. aber dann ausreichen, wenn andere Umstände die Richtigkeit dieser Zählung erhärten (OLG Brandenburg DAR 1999, 512; OLG Düsseldorf NZV 2000, 134; OLG Hamm DAR 1997, 77 = NZV 1997, 130 = VRS 92, 441; NZV 2002, 577; DAR 2008, 35 = VRR 2008, 112 = zfs 2008, 111). In dem vom OLG Hamm dazu entschiedenen Fall waren im Urteil zusätzlich noch Entfernungsangaben enthalten, die eine "Rückrechnung" der Fahrstrecke und -zeit erlaubten (OLG Hamm a.a.O.).
Hinweise:
Der Verteidiger sollte sich folgende Faustregel merken: Das Schätzen und Zählen "21, 22 ..." reicht – wenn überhaupt – i.d.R. nur, wenn es sich um eine gezielte Rotlichtüberwachung handelt. De...