a) Allgemeines
Ebenso wie der Beschuldigte im Strafverfahren kann sich der Betroffene im OWi-Verfahren nur wirksam verteidigen, wenn er die ihm zur Last gelegten Umstände kennt (vgl. Burhoff/Stephan, OWi, Rn 185 ff.; Burhoff, in: Ludovisy/Eggert/Burhoff, Praxis des Straßenverkehrsrechts, 6. Aufl. 2015, § 5 Rn 233 ff. [im Folgenden kurz: Ludovisy/Eggert/Burhoff/Bearbeiter]; Cierniak zfs 2012, 664, 669 für das straßenverkehrsrechtliche Bußgeldverfahren). Dies setzt die Kenntnis des Inhalts der Bußgeldakte voraus. Nur eine möglichst frühzeitige Information über die Vorwürfe, wegen derer das Bußgeldverfahren betrieben wird, versetzt den Betroffenen in die Lage, sich rechtzeitig auf die Verteidigung einzustellen und sich Verteidigungsmittel zu beschaffen. Deshalb ist das Akteneinsichtsrecht des § 147 StPO i.V.m. § 46 OWiG – auch im Bußgeldverfahren – ein Kernstück der Verteidigung, das den Grundsätzen des Rechts auf rechtliches Gehör und des fairen Verfahrens entspringt.
Hinweis:
Auch im OWi-Verfahren gilt der allgemeine Grundsatz, dass nicht allein aufgrund der vom Mandanten gegebenen Informationen eine Stellungnahme bei der Polizei oder der Bußgeldstelle abgegeben werden sollte. In der Regel ist die Entscheidung darüber, ob und welche Stellungnahme verfasst wird, erst zu treffen, nachdem der Verteidiger Akteneinsicht hatte. Auch empfiehlt es sich, keinerlei Skizzen, Fotos, eingeholte Zeugenerklärungen etc. frühzeitig vorzulegen. Auch hier sollte der Verteidiger zunächst Akteneinsicht nehmen.
b) Verfahren
Für die Akteneinsicht im Bußgeldverfahren gelten grundsätzlich die allgemeinen Regeln der Akteneinsicht im Strafverfahren (wegen der Einzelheiten Göhler/Seitz, OWiG, 16. Aufl. 2012, § 60 Rn 48 ff. m.w.N., § 49 Rn 1 ff.; Burhoff/Stephan, OWi, Rn 185 ff.; Burhoff, EV, Rn 145 ff.; Ludovisy/Eggert/Burhoff/Burhoff, § 5 Rn 234 ff. i.V.m. § 4 Rn 776 ff.).
Zuständig für die Akteneinsicht im vorbereitenden Verfahren ist die Verwaltungsbehörde, die das Verfahren durchführt (Meyer DAR 2010, 109).
Berechtigt zur Akteneinsicht ist zunächst der Verteidiger des Betroffenen.
Hinweis:
Voraussetzung für die Gewährung von Akteneinsicht ist nicht, dass sich eine schriftliche Vollmacht bei der Akte befindet. Es genügt die Versicherung des Verteidigers, er sei bevollmächtigt (BGHSt 36, 259, 260; BGH StraFo 2010, 339; KG VRS 122, 34 = VRR 2012, 74 = StRR 2012, 147; OLG Brandenburg VRS 117, 305; OLG Jena VRS 108, 276; OLG Koblenz VRS 94, 219; OLG Köln StRR 2011, 479; OLG München StV 2008, 127; OLG Nürnberg NJW 2007, 1767 für Revisionsbegründung; LG Bremen StV 1982, 505; LG Chemnitz StraFo 2009, 207; LG Cottbus StraFo 2002, 233; LG Ellwangen NStZ 2003, 331; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 59. Aufl., vor § 137 Rn 9; Laufhütte/Willnow, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 7. Aufl., § 147 Rn 3; Burhoff, EV, Rn 115 m.w.N.; Burhoff/Stephan, OWi, Rn 201; s. wohl auch BVerfG NJW 2012, 141 m. Anm. Burhoff StRR 2011, 426).
Wird dem Verteidiger die Akteneinsicht versagt, kann er abweichend von den sonstigen Rechtsmitteln bei Versagung/Beschränkung von Akteneinsicht gem. § 62 OWiG Antrag auf gerichtliche Entscheidung stellen, über den das nach § 68 OWiG zuständige Amtsgericht entscheidet. Bei gerichtlichen Entscheidungen richten sich die Rechtsmittel nach § 46 OWiG i.V.m. § 147 Abs. 5 StPO (zu den Rechtsmitteln bei Akteneinsicht s. Burhoff, EV, Rn 266 ff.; Burhoff/Stephan, OWi, Rn 217 ff.).
Nach § 49 Abs. 1 OWiG kann im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde diese dem Betroffenen auch selbst – unter Aufsicht – Akteneinsicht gewähren. § 49 Abs. 1 OWiG ist im Verfahren vor der Verwaltungsbehörde gegenüber § 147 Abs. 7 StPO "lex specialis" (Göhler/Seitz, a.a.O., § 49 Rn 1; zum Akteneinsichtsberechtigten Burhoff/Stephan, OWi, Rn 199). Die Akteneinsicht durch den Betroffenen selbst steht im Ermessen der Verwaltungsbehörde, dürfte aber in einfachen Bußgeldverfahren, in denen die Akten meist nicht so umfangreich sind, dass der Überwachungsaufwand ein Problem darstellen könnte, i.d.R. zu gewähren sein.
Hinweis:
§ 49 Abs. 1 OWiG gilt aber nur für das Verfahren bei der Verwaltungsbehörde. Ist das Verfahren von dieser gem. § 69 Abs. 3 OWiG an die Staatsanwaltschaft bzw. dann von dieser an das Amtsgericht abgegeben worden, bleibt es über § 46 OWiG bei der Anwendung des § 147 StPO.
Die Entscheidung über die Akteneinsicht trifft die Behörde. Wird dem Betroffenen die Akteneinsicht versagt, kann dagegen die gerichtliche Entscheidung nach § 62 OWiG beantragt werden (Göhler/Seitz, a.a.O., § 60 Rn 54a; zum Antrag auf gerichtliche Entscheidung Burhoff/Gieg, OWi, Rn 414 ff.). Das gilt auch für die Ablehnung nach Einstellung des Bußgeldverfahrens (OLG Stuttgart NStZ-RR 2001, 179).
c) Umfang der Akteneinsicht
Das Akteneinsichtsrecht bezieht sich auf den gesamten Akteninhalt, so dass hiervon alle in den Akten befindlichen Unterlagen, Schriftstücke, sowie ggf. Bedienungsanleitungen zu Messgeräten, Ton- und Bildaufnahmen oder Registerauszüge, umfasst sind (vgl. wegen der Einzelheiten zum Umfang des Akteneinsichtsrechts [im Strafverfahren] auch ...