1. Vorverfahren
a) Anhörung des Betroffenen (§ 55 OWiG)
aa) Allgemeines
In § 55 OWiG ist vorgeschrieben, dass der Betroffene vor Erlass eines Bußgeldbescheids anzuhören ist. Es ist allerdings nicht geregelt, in welcher Form dies zu geschehen hat (zur Anhörung des Betroffenen eingehend Burhoff/Gübner, OWi, Rn 373 ff.). Anders als im Strafrecht (§ 163a StPO) genügt im Bußgeldverfahren auch, dass dem Betroffenen nur Gelegenheit zur Äußerung gegeben wird. Dies kann mündlich an Ort und Stelle, schriftlich durch das Übersenden eines Fragebogens oder mittels protokollarischer Vernehmung erfolgen. Das wird in straßenverkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren häufig übersehen.
Hinweis:
Es ist darauf hinzuweisen, dass der Beschuldigte einer polizeilichen Ladung zur Anhörung (derzeit) nicht Folge zu leisten hat, sofern nicht die Polizei ausnahmsweise selbst Bußgeldbehörde ist. Insoweit ist jedoch eine Gesetzesänderung vorgesehen, und zwar durch das "Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens" (vgl. BR-Drucks 796/16 = BT-Drucks 17/11277).
bb) Belehrung des Betroffenen
Im Hinblick auf die Aussagepflicht des Betroffenen ist zu unterscheiden, ob es sich um Angaben zur Person oder zur Sache handelt. Da auch im Ordnungswidrigkeitenrecht kein Zwang zur Selbstbezichtigung besteht, steht es dem Betroffenen stets frei, sich inhaltlich mit dem Vorwurf auseinander zu setzen. Auf dieses Aussageverweigerungsrecht ist der Betroffene ausdrücklich hinzuweisen (§ 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 136 Abs. 1 S. 2 StPO), was im schriftlichen Anhörungsverfahren durch entsprechende Vordrucke sichergestellt ist (zur Belehrung des Betroffenen s. Burhoff/Gübner, OWi, Rn 476 ff.).
Hinweise:
Unterbleibt die Belehrung des Beschuldigten, so führt dies nach der Rechtsprechung des BGH im Strafverfahren zu einem Verwertungsverbot (BGHSt 38, 214; vgl. dazu eingehend Burhoff, EV, Rn 3087 ff.; Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 8. Aufl. 2016, Rn 3433 ff. m.w.N. (im Folgenden kurz Burhoff, HV); vgl. dazu auch u.a. LG Saarbrücken zfs 2013, 590 = VRR 2014, 108 = StRR 2014, 109). Für den Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts hat der BGH die Frage nach den Folgen einer unterlassenen Belehrung ausdrücklich offen gelassen. Allerdings dürfte auch hier ein Verwertungsverbot wegen der möglicherweise schwerwiegenden Folgen für den Betroffenen (Fahrverbot) zu bejahen sein (s. auch Burhoff/Stephan, OWi, Rn 703 m.w.N. aus der Literatur; Burhoff/Gübner, OWi, Rn 485 ff. m.w.N.; Burhoff VA 2013, 16 ff.).
Der Verteidiger muss die unterlassene Belehrung seines Mandanten in der Hauptverhandlung ggf. mit einem Widerspruch geltend machen (zur Geltung der Widerspruchslösung auch im OWi-Verfahren s. OLG Oldenburg VRS 88, 286; für die Videomessung OLG Hamm VRR 2010, 43 (Ls.) = StRR 2010, 43 (Ls.); OLG Rostock VRR 2010, 38 = StRR 2010, 37; vgl. noch Burhoff VA 2013, 16; ders. VA 2013, 35; zu den Einzelheiten der Widerspruchslösung Burhoff, HV, Rn 3433 ff. m.w.N.).
cc) Anhörung zur Person
Anders als bei den Angaben zur Sache (s. nachfolgend IV. 1. a. dd.) besteht hinsichtlich der Personalien gem. § 111 OWiG eine generelle Verpflichtung zur Mitwirkung. Das gesetzlich geschützte Rechtsgut ist das staatliche Interesse an der Identitätsfeststellung einer Person. Ergibt sich aus dem Anschreiben, dass die Behörde im Hinblick auf den Adressaten – die Frage nach den Personalien des Fahrers sind freiwillige Angaben zur Sache – über die notwenigen Informationen bereits verfügt, fehlt das berechtigte Interesse an den Daten und damit an einer Rücksendung des Anhörungsbogens (BayObLG NJW 1979, 1054 = DAR 1980, 28; OLG Hamm NJW 1988, 274; Burhoff/Gübner, OWi, Rn 383 f.; zum Umfang der Auskunftspflicht s. auch OLG Hamm VRS 111, 282 = VRR 2007, 113 m. Anm. Lange; VA 2013, 196 = VRR 2013, 394).
dd) Äußerung des Betroffenen zur Sache
Ebenso wie im Strafverfahren steht es dem Betroffenen auch im Bußgeldverfahren frei, sich zur Sache zu äußern. Der sog. Nemo-tenetur-Satz gilt auch hier: Aus einem vollständigen Schweigen dürfen keine für den Betroffenen nachteiligen Schlüsse gezogen werden. Gibt der Betroffene allerdings zu einem einheitlichen Vorgang Teilauskünfte, so kann dem Schweigen im Übrigen eine Indizwirkung zukommen (BGHSt 25, 365; eingehend zu diesen Fragen Burhoff/Stephan, OWi, Rn 986 ff.; Burhoff/Gübner, OWi, Rn 373 ff. und Burhoff, EV, Rn 1595 ff. jeweils m.w.N.).
Hinweis:
Der Verteidiger muss den Mandanten darüber belehren, dass er einen ihm zugesandten Anhörungsbogen hinsichtlich der Personalien ausfüllen muss (§ 111 OWiG), wenn diese nicht bekannt sind. Er sollte ihn auch über ggf. bestehende Zeugnisverweigerungsrechte von Angehörigen belehren, die auch gegenüber der Polizei bestehen. Auch müssen Freunde und Nachbarn, die ggf. von der Polizei befragt werden, keine Angaben machen, solange die Polizei nicht selbst Bußgeld/Verwaltungsbehörde ist (zur polizeilichen Vernehmung s. Burhoff, EV, Rn 3087 ff.).
ee) Folgen einer unterlassenen Anhörung
Oft wird von Betroffenen vorgebracht, einen Anhörungsbogen nicht erhalten zu haben, so dass das Verfahren wegen gravierender Mängel, zumindest aber wegen Verjährung einzustellen sei. Beides ist indes nicht de...