Die Entscheidung des BayObLG vermag nicht zu überzeugen (vgl. a. Niehaus VRR 1/2021, 14, 15), wie nunmehr auch das OLG Jena entschieden hat (Beschl. v. 17.3.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20). Das BVerfG hat in seinem Beschl. vom 12.11.2020 unmissverständlich im Sinne der schon zuvor herrschenden Auffassung (s.o.) entschieden, dass der Betroffene ein Recht auf möglichst frühzeitigen und umfassenden Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen hat, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen könnte. Diese für die Praxis bedeutsame Klarstellung vollzieht das BayObLG lediglich hinsichtlich der Messdaten der den Verurteilten betreffenden Messung nach. Soweit das BayObLG einen Anspruch auf Überlassung der gesamten Messreihe vom Tattag ablehnt (also der Messungen anderer Verkehrsteilnehmer), dürfte dies dem Beschluss des BVerfG erkennbar widersprechen und das dem Betroffenen zuerkannte Einsichtsrecht zu entwerten drohen. Nach der Entscheidung des BVerfG dürfte dem Einsichtsgesuch der Verteidigung gerade nicht entgegengehalten werden können, dass aus den Daten der gesamten Messreihe (nach der Auffassung des Gerichts oder der PTB) keine für die Beurteilung der den Betroffenen betreffenden Messung relevanten Erkenntnisse herzuleiten seien (zutreffend OLG Jena, a.a.O.).
Wie das BVerfG ausdrücklich ausführt, kann die Verteidigung „grds. jeder auch bloß theoretischen Aufklärungschance nachgehen” (a.a.O., Rn 57). Hingegen obliegt es weder den Gerichten noch sind sie dazu befugt, das Einsichtnahmerecht des Betroffenen mit der Begründung einzuschränken, dass das Gericht (oder gar die PTB) meint, dass der Betroffene der Einsichtnahme in die begehrten Unterlagen und Dateien nicht bedürfe, weil sich daraus – nach Auffassung des Gerichts – nichts Relevantes ergeben werde. Weder mit den zitierten Ausführungen des BVerfG noch mit den genannten Grundsätzen der Spurenakten-Entscheidung des BVerfG (dazu zutr. OLG Jena, a.a.O.: „Macht der Beschuldigte geltend, er wolle sich selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus [den Unterlagen] keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, wird ihm die Einsicht in solche Akten regelmäßig nicht zu versagen sein.”) setzt sich das BayObLG – obwohl es die Entscheidung zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auf den Senat übertragen hat – auch nur auseinander.
Stattdessen beschränkt sich das Gericht auf die Behauptung, es sei ein „sachlicher Zusammenhang mit dem Tatvorwurf” nicht hinreichend dargetan. Dies dürfte den o.g. vom BVerfG zutreffend formulierten Grundsätzen widersprechen. Denn lediglich zur Vermeidung von „Rechtsmissbrauch” (a.a.O., Rn 56) hat das BVerfG im Anschluss an die zitierten Grundsätze ausgeführt, dass das Einsichtsrecht nicht zu einer „uferlosen Ausforschung” berechtige. Die begehrten Informationen müssen deshalb „in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen” (a.a.O., Rn 57). Das ist hinsichtlich der Messdaten des gesamten Tattages indes erkennbar der Fall (zutr. OLG Jena, a.a.O.). Dementsprechend beschränkt das BVerfG das Einsichtsrecht auch ausdrücklich nicht (wie das BayObLG) auf die Messdaten der konkreten Einzelmessung des Betroffenen, was anderenfalls nahe gelegen hätte.
Denn der vom Betroffenen zu beauftragende Sachverständige wird die Daten des gesamten Messtags etwa verwenden können (und dieser Daten gerade bedürfen), um die Richtigkeit der Messung des Betroffenen auf ihre Plausibilität überprüfen zu können oder aber gerade Zweifel daran zu belegen (vgl. OLG Jena, a.a.O.). Eben darum geht es bei der Gewährung des Einsichtsrechts, denn nach den Grundsätzen über das standardisierte Messverfahren muss der Betroffene nicht die Richtigkeit der Messung widerlegen, sondern zur Stellung eines Beweisantrags, dem das Gericht dann nachzugehen hat, konkrete Anhaltspunkte für eine unzutreffende Messung vortragen. Durch die Beschränkung auf die Daten der konkreten Einzelmessung des Betroffenen wird dem Betroffenen diese Möglichkeit durch Vergleich mit den übrigen Messungen des Tattages genommen. Das widerspricht dem oben dargelegten Gewährleistungsgehalt des aus dem Recht auf ein faires Verfahren resultierenden Einsichtsrecht des Betroffenen (OLG Jena, a.a.O.).
Das BayObLG hat den Beschluss des BVerfG daher nur zu einem Teil nachvollzogen und will im Übrigen offenbar an der bisherigen „anachronistisch wirkenden Blockadehaltung” (vgl. Cierniak/Niehaus NStZ 2014, 527; Deutscher StRR 2018, Nr. 7, 23 [„Trauerspiel”]) festhalten. Das ist, nachdem das BVerfG mit seinem Beschluss die Grundlage für eine Handhabung in der Praxis geschaffen hat, die sowohl die Belange der Praxis als auch die Rechte des Betroffenen hinreichend berücksichtigt, zu bedauern. Die Verteidigung wird in diesen Fällen weiterhin um das Recht des Betroffenen kämpfen müssen, die Ordnungsgemäßheit der Messung mittels standardisierter Messverfahren eigeninitiativ übe...