I. Entscheidung des BVerfG
In einer der meistdiskutierten Fragestellungen der vergangenen Jahre auf dem Gebiet des Ordnungswidrigkeitenrechts (zum Ganzen ausführlich Burhoff/Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021) dürfte das BVerfG mit seinem Kammerbeschluss vom 12.11.2020 (2 BvR 1616/18 m. Anm. Krenberger NZV 2021, 41; vgl. Burhoff VA 2021, 33; Burhoff ZAP F. 22 R, S. 1193, 1203; Niehaus VRR 1/2021, 4 ff.) im Grundsatz für Klarheit gesorgt haben. Gegenstand des Verfahrens war die Verurteilung wegen eines Geschwindigkeitsverstoßes zu einem Bußgeld von 160 EUR und zu einem Fahrverbot von einem Monat.
Die Verteidigung hatte im Vorfeld Einsicht in „1. in die gesamte Verfahrensakte, 2. eine ggf. vorhandene Videoaufzeichnung, 3. den ggf. vorhandenen Messfilm, 4. ggf. die Rohmessdaten der gegenständlichen Messung in unverschlüsselter Form (...), 5. in die sog. Lebensakte (...), 6. in die Bedienungsanleitung des Herstellers des verwendeten Messgerätes (...), 7. in den Eichschein des verwendeten Messgerätes, 8. in den Ausbildungsnachweis des Messbeamten” verlangt, diese Informationen aber überwiegend nicht erhalten. In der Hauptverhandlung wies das Amtsgericht einen Aussetzungsantrag der Verteidigung ab und verurteilte den Betroffenen. Dessen Rechtsbeschwerde verwarf das OLG Bamberg mit der Begründung, die Nichtgewährung der Einsicht in die nicht bei der Akte befindlichen Unterlage begründe keinen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens oder des rechtlichen Gehörs, da es allein um eine Frage der Aufklärungspflicht gehe, die an § 244 Abs. 2 StPO zu messen sei. Die entgegenstehende Auffassung des VerfGH des Saarlandes sei „unhaltbar”.
1. Grundsätze des standardisierten Messverfahrens nicht zu beanstanden
Hinweis:
Unter einem standardisierten Messverfahren ist ein durch Normen vereinheitlichtes (technisches) Verfahren zu verstehen, bei dem die Bedingungen seiner Anwendbarkeit und sein Ablauf so festgelegt sind, dass unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind (BGHSt 43, 277, 284; Cierniak zfs 2012, 664).
Die Verwendung standardisierter Messverfahren hat Auswirkungen auf den Umfang der Beweisaufnahme und auf den Begründungsaufwand im Urteil (reduzierte Sachaufklärungs- und Darlegungspflicht der Gerichte, vgl. BVerfG, a.a.O., Rn 40). In Verbindung mit der Berücksichtigung eines Toleranzabzugs, durch den systemimmanente Messfehler erfasst werden, führt die Anerkennung standardisierter Messverfahren dazu, dass die Ermittlungsbehörden und die Gerichte ohne Anhaltspunkte für eine Abweichung vom Regelfall kein Sachverständigengutachten einholen müssen und sich das Gericht in den Entscheidungsgründen nicht mit den Einzelheiten der Messung auseinandersetzen muss (BGHSt 39, 291, 297 f.; 43, 277, 283 f.). Es sind im Urteil lediglich die angewandte Messmethode, der berücksichtigte Toleranzabzug und das Ergebnis der Messung nach Durchführung des Toleranzabzugs mitzuteilen (vgl. KG NStZ 2019, 288). Das Urteil muss dabei zwar nicht ausdrücklich mitteilen, welchen Toleranzabzug vorgenommen wurde; der berücksichtigte Toleranzwert muss sich aber aus den Urteilsgründen zweifelsfrei ermitteln lassen (KG a.a.O.).
Die vorgenannten Grundsätze sind gesetzlich nicht verankert, sondern beruhen auf richterlicher Rechtsfortbildung (vgl. BGHSt 39, 291, 297 f.; 43, 277, 283 f.). Das BVerfG stellt seiner Entscheidung zunächst voran, dass diese Grundsätze von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden sind (BVerfG, a.a.O., Rn 39; vgl. auch Burhoff ZAP F. 22 R, S. 1193, 1203).
2. Auswirkungen der Anwendung standardisierter Messverfahren auf die Verteidigung
Für die Verteidigung des Betroffenen ergibt sich aus der Anwendung standardisierter Messverfahren somit eine Beibringungs- bzw. Darlegungslast (vgl. Cierniak/Niehaus DAR 2019, 541, 542 m.w.N.). Denn nur, wenn die Verteidigung konkrete Zweifel an der Richtigkeit der Messung darlegt, ist das Gericht im Fall der Anwendung standardisierter Messverfahren verpflichtet, in eine weitere Sachaufklärung zur Richtigkeit der Messung einzutreten, namentlich ein Sachverständigengutachten zur Richtigkeit der Messung einzuholen.
Hinweis:
Nicht zielführend ist deshalb das in der Praxis häufig zu beobachtende Verfahren der Verteidigung, erst in der Hauptverhandlung einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zu stellen mit dem – nicht näher konkretisierten – Vorbringen, die verfahrensgegenständliche Messung sei unrichtig, und sodann in der Rechtsbeschwerdeinstanz die rechtswidrige Zurückweisung dieses Beweisantrags zu rügen. Denn ohne konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Messung unrichtig war, darf das Amtsgericht nach den Grundsätzen zum standardisierten Messverfahren einen solchen Beweisantrag nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückweisen, weil die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist. Die nachfolgende Rechtsbeschwerde ist dann ebenfalls regelmäßig jedenfalls unbegründet, weil das Amtsgericht den Beweisantrag gerade nicht zu Unrecht zurückgewiesen hat (vgl. Burhoff/Niehaus in: Burhoff, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, a.a.O.).
3. Einsicht in die Messunterlagen; Waffengleichheit; Parität des Wissens
Die grundsätzl...